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Dmitrij Venevitinov: Flügel des Lebens

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Jan Kuhlbrodt

Russensommer



Was wär der Dichter ohne Leidenschaft und Blut?
Verzeih! Er schwärmt, er muss – und geht daran zugrunde,
doch dankbar, denn er liebt, woran er stirbt: die Wunde.


Das ist das abschließende Terzett im Sonett So still floss meine Zeit. Eingefangen findet sich hier eine Ironie, die sich kaum über ihren Gegenstand erhebt. Pure Romantik!

Vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht aber hat es auch Methode. Jedenfalls wächst mir jeden Sommer eine Reihe von Texten zu, die von russischen Autoren verfasst wurden und in deutscher Übersetzung zum ersten Mal erscheinen, und die mein Bild von der russischen Dichtung der letzten zweihundert Jahre, wenn nicht vollkommen umstoßen, so doch gehörig erweitern.
Im Verlag Ripperger & Kremers ist in diesem Jahr ein Band des Dichters, Philosophen und Essayisten Dimitrij Venevitinov erschienen. Ich hatte von diesem Autor noch niemals gehört, und er gehört wohl zu jenen, die man, zumindest im deutschsprachigen Raum als Entdeckung bezeichnen kann.


Übersetzt wurden die Texte von Dorothea Trottenberg und Hendrik Jackson. Ein sehr instruktives Vorwort steuerte Markus Bernauer bei. Interessant hier vor allem der erneute Verweis auf die europäische Verbindungen der Romantischen Dichter und Philosophen, die Bedeutung von Schelling und Byron beispielsweise. Beides findet sich auch in den Texten Venevitinovs. Man kann guten Gewissens von einem romantischen Geflecht sprechen.

Venevitinov kam 1805 in Moskau zur Welt und starb 1827 in St. Petersburg an den Folgen einer Lungenentzündung. Es war ihm also wenig Zeit beschieden, und die Texte, die im Buch unter dem Titel Flügel des Lebens versammelt sind, markieren einen Moment des künstlerischen und theoretischen Aufbruchs. Einen Aufbruch, der letztlich das Ende einer Kariere markiert, aber gleichzeitig auf so etwas wie Dichtungsgeschichte verweist, die, wie es scheint, unabhängig der Ansichten ihrer Protagonisten verläuft. Eine literarische Evolution, die ihren eigenen Gesetzen folgt.

Unter der Kategorie Prosa zusammengefasst finden sich im Band auch einige Aufsätze und Besprechungen des Autors. In einem Text, einer Entgegnung auf Ausführungen des Altphilologen und Übersetzers Mersjakow schreibt Venevitinov:

Unsere Poesie kann man mit einer starken Stimme vergleichen, die den Himmel anruft, von allen Seiten Widerhall findet und in ihrem Drang immer stärker wird.


Und im gleichen Text, etwas weiter unten heißt es:

Wo Bemühungen zu erkennen sind, dort ist Leben und Hoffnung. Indes droht ihnen dann unabwendbare Gefahr, wenn alles Drängen nachlässt, wenn die Gegenwart sich unterwürfig auf den Spuren des Vergangenen dahinschleppt, wenn kalte Nüchternheit sich niederlässt auf den Denkmälern starker Gefühle und Selbstständigkeit, wenn das ganze Jahrhundert einen hoffnungslos einförmigen Anblick bietet.


Diese Ausführungen scheinen so etwas wie die intellektuelle Basis der Übersetzungen der Veventinov-Gedichte durch Jackson zu sein. Jackson bringt sie in ein zeitgemäßes Deutsch, arbeitet mit Versmaß und Reim, ohne sich zum Büttel einer tradierten Struktur zu machen, die Herkunft dabei aber bleibt erkennbar. Im Anhang zudem finden sich noch Interlinearversionen der Gedichte. Man kann auf diese Weise dem Übersetzer über die Schulter schauen. Das macht großen Spaß und ist lehrreich.
Leider fehlen die russischen Originale, aber die lassen sich, wenn man denn will, im Internet finden.



Dmitrij Venevitinov: Flügel des Lebens. Lyrik, Prosa, Briefe: Gesammelte Werke. Übersetzt von Dorothea Trottenberg und Hendrik Jackson. Berlin (Verlag Ripperger & Kremers) 2016. 264 Seiten. 22,90 Euro.

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