Dmitri Strozew: staub tanzend
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Jan Kuhlbrodt
Dmitri Strozew: staub tanzend. Aus dem Russischen von
Andreas Weihe. Berlin (hochroth Berlin) 2020. 44 Seiten. 8,00 Euro.
Zu Dmitri Strozew
Gleich in einem der ersten Gedichte des bei Hochroth
erschienenen Buches geht es zur Sache.
ergleitet unverhofftin den schlafder jünger im garten gethsemanein den schlafder sieben knaben zu ephesusund wachtplötzlich aufim goldenen zeitalterder poesie harmonie und freiheitoderauf dem weg in den GULAG
Hier wird die Alternative aufgezeigt, die Poesie dem Poeten
im letzten Jahrhundert, dem Jahrhundert der Wölfe, eröffnete. Doch war der
erste Weg der, sich aus der Realität zu flüchten. Wenn man versuchte, ihr zu
begegnen, war der Gulag nicht weit. Das Problem ist, und nicht nur für Belarussen,
dass das vergangene Jahrhundert soweit nicht zurückliegt und an der einen oder
anderen Stelle erneut aufflammt.
Es scheint nicht die Zeit für Lyrik zu sein. Jedenfalls
nicht in Belarus, denn dort sind in den letzten Wochen einige Dichter verhaftet
worden, unter ihnen der 19 63 geborenen Dmitri Strozew.
Aber es war wohl keine von langer Hand geplante Festnahme,
sondern er wurde verhaftet, weil er sich, wie die belarussische
Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch an die Seite der Protestierenden
gestellt hat.
Wenn man die jüngst im Hochroth Verlag erschienenen Gedichte
Strozews liest, kommt diese seine Solidarisierung aber nicht von ungefähr. Die
Texte durchweht ein skeptischer, zuweilen ein anklagend-melancholischer Ton,
wiewohl sie keine propagandistischen Kampfgedichte sind. Ich denke, man kann
sie in einer Reihe mit den ironisch dekonstruktiven postsowjetischen Dichtern
wie beispielsweise Prigow lesen, die aus dem in der Sowjetunion sozialistisch
überformten Wortmaterial eine Sprache herausschälten, zunächst über ironische
Brechung, die wieder in der Lage ist, dichterische Autonomie zu gewährleisten.
Als Beispiel mag dieser Text herhalten, der sich zuweilen noch aus angewehtem
Pathos speist.
für Swetlana Alexijewitsch
land der festungen
geschleift bis auf die grundmauern
wildes feld
europäischer fehden
he ihr faulen
schnell kommt mit
ins neue jahrhundert
rufen die nachbarn
aus den kohlehalden
aus den bunkern
erheben wir uns selig
küssen
die stille sonne
wie verlässliche kunde

Es ist also der Aufbruch mit Skepsis gepaart. Die neue Zeit
verbirgt in sich die alte, sie hat sie nicht überwunden, wenn Überwindung
überhaupt möglich ist, wenn Überwindung überhaupt das richtige Wort ist. Im
Gedicht „Planet der Fussballfans“ entfaltet sich das Paradoxon in seiner ganzen
überzeitlichen Multinationalität.
Übersetzt wurden die Gedichte von Andreas Weihe, der in der
Sowjetunion Biologie studierte und sich seit den achtziger Jahren der
Übertragung von Texten aus dem Russischen widmet.