Dirk Uwe Hansen: sirenenecho
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Stefan Heuer
Mit lyrischer Lust die Felsen umschiffen –
neue Gedichte von Dirk Uwe Hansen im Gutleut Verlag
Was Wörter im Kopf so alles auslösen können …
Endlich, es sollte eigentlich um Wochen früher sein, komme ich dazu, mich dem neuen, im Herbst 2022 im Gutleut Verlag erschienenen, Gedichtband von Dirk Uwe Hansen zu widmen – "sirenenecho" heißt er, und augenblicklich löst dieses Wort bei mir eine Assoziationskette aus, der ich mich nicht zu entziehen vermag: Rettungswagen, die mit heulender Sirene und Blaulicht durch unsere Straße rasen, Polizisten in reflektierenden Schutzwesten, Platzwunden, auf einmal das Gesicht von Ralph Caspers, der mir in "Wissen macht Ah!" den Doppler-Effekt erklärt … und dann Stille. Es dauert ein paar Sekunden, bevor sich Verstand und Wissen einschalten und die Lage ein wenig sortieren. Si-re-nen, lasse ich mir das Wort silbenweise und laut auf der Zunge zergehen, als Titel des Gedichtbandes eines studierten Altphilologen … und plötzlich scheint mir Odysseus wahrlich näher und deutlich wahrscheinlicher als die Samariter bzw. neonfarbenen Malteser …
Dass ich mit der griechischen Mythologie richtig liege, beweist mir der Blick ins Innere des Buches mit flankierenden Texten und Zwischenblättern auf Griechisch, und auch inhaltlich finden die Gegenspielerinnen der Musen (gerade) in den ersten Gedichten schnell ihre Präsenz. Unterstützt wird dies durch die mehrheitlich (wie Postkarten zu Beginn des 20. Jahrhunderts) nachkolorierten Fotos aus der Serie wasser – echolot / hall / ultraschall von Michael Wagener, welche das homerische Motiv der trügerischen Flaute ebenso aufnehmen wie das des starken Wellengangs und maritimen Unglücks.
Die nun mehrfach heraufbeschworene
Mythologie reicht in die
Darreichungsform der Texte hinein: geheimnisvolle Gebilde, die in ihrer Mehrzahl
durch (zumindest meine) Logik nicht zu erklären sind. Gedichte, die wie eine Reise
unter südlicher Sonne so manche Überraschung parat haben.
Hansens Gedichte, so scheint es, tasten sich langsam
vorwärts. Zumeist sind es misstrauische, vorsichtig sich fort-bewegende Gedichte
in kurzen Zeilen, oft ein Wort oder zwei für sich. Jedes Wort wie ein Schritt,
ein vorsichtiges Aufsetzen des Fußes, so als gelte es, eine unbekannte Insel zu
beschreiten. Über Wiederholung und geschickt eingesetztes Enjambement bringt er
seine Texte Zeile um Zeile voran:
die bunten steine aus plastik ein turm /die milchstraße nichts als ein wegbaut sichwas rot ist hatgold im mundauf haufen aufwegen unter der erde istplatz ist ein raum der
AUCH DIESEN RAUM VERLASSEN DURCH DRUCKZWISCHEN SICHT UND UM UND ÜBER DIE LETZTE GRENZE HINAUS
Dem Verdacht, es der Leserin/dem
Leser unnötig leicht zu machen, setzt sich der 1963 in Eckernförde geborene Lyriker,
Übersetzer und Herausgeber in seinem nunmehr
bereits vierten Buch beim Frankfurter Gutleut Verlag nicht aus. (2016: wolkenformate;
2018: sonne geschlossener wimpern mond; 2020: aussichtsplattform / darsolarpolar
/ welten.9 – gemeinsam mit Michael Wagener):
gleitet es weiter davon / gibt es bewegung nichtdurst hatstimme kein licht bleibt
hinterallem verstand zurückraubtsonne raubt aushatauf den wegen gesungen
AUCH DIESEN RAUM VERLASSEN DURCH VERSTECKEN UNDÜBER DIE FLANKEN UND OHNE KEINEN BLICK ZURÜCK
Über vielen von Dirk Uwe Hansens Gedichten schwebt eine Bedrohlichkeit,
die letztendlich offenlässt bzw. daran zweifeln lässt, dass man dem Gesang der
Sirenen bzw. dem Rettungswagen (um das Bild vom Anfang nochmals aufzunehmen)
entkommen ist …
So offensichtlich der mythologische Bezug
bzw. Aspekt an vielen Stellen auch sein mag: Das diesen Gedichtband
beherrschende, das wirkliche Meta-Thema, scheint mir jedoch die sowohl
körperliche als auch geistige Veränderung im Leben eines Menschen zu sein; die Metamorphose,
nun ja: das Unterwegssein, das Sich-Entwickeln. Eine seelische Mobilität, die
in der Kindheit begründet liegen dürfte und sich durch die Lebensstadien zieht,
Entfremdung und Verlust inbegriffen:
hast du das fliegen verlernt / war deine landkarte falsch
in zwischen
räumen bewegung entstehtflug durch interesse ohnewohlgefallen sind fallen sindimmer erste und zwischenzwei ist nie ein ende am endehilft auch kein herz in der brust
AUCH DIESEN RAUM VERLASSEN DURCH GESCHLECHT –SAY THAT AGAIN – BETRETEN AUS ANGST HEISST AUS RICHTUNGVERMEINTLICH GEREGELTER FOLGEN
Ein stimmiger, dichter Gedichtband, der auf mehreren Ebenen
funktioniert. Wer Willens und in der Lage ist, sich auf die Stimmung von in der
Hand klackernden Steinen und Zikadengebrüll einzulassen, der wird Gefallen finden.
Ansonsten: edle Typografie, tolle Haptik, wie immer bei den
Gutleut-Büchern. Und auch davon, dass dieses Buch relativ dünn daherkommt,
sollte man sich nicht stören lassen – heißt es doch in wissenden Kreisen nicht
ohne Grund: Don't judge a book by its Umfang.
Dirk Uwe Hansen: "sirenenecho". Gedichte.
Frankfurt a.M. (Gutleut Verlag - Reihe "licht",
Band 10) 2022. 64 Seiten, Klappenbroschur, mit Grafiken von Michael Wagener. ISBN 978-3-948107-35-2. 25,00 Euro.