Dietmar Ebert: „Sich eine dünne Haut zulegen und nicht aus ihr fahren“
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Staatstheater Braunschweig, Mädchenmörder::Brunke, 08.06.2024
„Sich eine dünne Haut zulegen und nicht aus ihr
fahren“ – Ein siebenteiliges Plädoyer
für Mädchen-mörder Brunke,
verfasst
von Dietmar Ebert
„Brunke
bringt sich um – D.H. wird irre – Thomas wird klüger, findet etwas über sich
heraus und über’s Schreiben.“
(Thomas Brasch)
I Karl Brunke und Robert Musil
Es
ist das Jahr 1906. Am 1. August erhängt sich in einer Zelle des Braunschweiger Gefängnisses
Karl Brunke. Ein Jahr zuvor hatte er die beiden Töchter des Kaufmanns Haars,
Alma und Martha, auf deren Wunsch erschossen.
Ebenfalls
1906 erscheint im Wiener Verlag Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zögling Törless. Darin schildert der Autor mit
psychologisch geschultem Blick die Verhaltensweisen pubertierender Jugendlicher,
die „Knechtung“ der Schwächeren durch die Stärkeren in einer Internatsschule
mitten in der Provinz der alten K. & K.- Monarchie.
1945.
- Am 19. Februar wird Thomas Brasch im englischen Westow geboren. 1956, fünfzig
Jahre nachdem sich Karl Brunke das Leben nahm und Musils Törless erschienen war, trat er in die Kadettenschule Naumburg ein.
Als Thomas Brasch mit 56 Jahren gestorben war, sagte Christoph Hein in einer
Matinee am 25. November 2001 im Berliner Ensemble: Thomas Brasch hatte sich gegen den Kadetten Brasch gewehrt. Dieser
Versuch einer Disziplinierung, unverständlich in meiner Zeit, vollkommen
unsinnig bei einem Menschen wie Brasch, zerbrach ihn nicht, zerstörte aber
endgültig die Liebe zum Vater.
Musste
nicht Robert Musils Törless, jenes
Buch, in dem eine herrschende Klasse, an Erhaltung und
Zementierung des von ihr geführten
Staates arbeitend, sich ihrer Kinder entledigt, indem sie deren Erziehung
einer von ihr bestellten und bezahlten
Bürokratie übertrug, dem jungen Thomas Brasch wie eine Parabel auf die
eigene Kindheit erscheinen?
Doch
so leicht macht es sich Thomas Brasch nicht. Er schreibt, zwei Jahre nachdem Vor den Vätern sterben die Söhne im
Rotbuch-Verlag mit großem Erfolg erschienen war, am 10. August 1979 in der ZEIT
über Musils Törless: Noch agieren Charaktere mit Anspruch auf
Subjektivität, die sie eigentlich schon nicht mehr für sich beanspruchen
können: Schon als Kinder sind sie nur noch Karikaturen auf dem Schoß, aus dem
sie in die für sie vorbereitete Welt gepreßt worden sind. Scharfsichtig
analysierend ist für ihn der Törless
ein Meisterwerk als Stufe zum kälteren Blick und zum entschiedeneren Bau.
Den
kälteren Blick hatte Thomas Brasch
bereits in Vor den Vätern sterben die Söhne in die Literatur
eingebracht. Lebenslang drängt es ihn aber ähnlich wie Robert Musil, die
Architektur in die Literatur einbrechen zu lassen. Damit sollen die Grenzen
zwischen „Kunst und Leben“ durchlässiger gestaltet werden. Die Literatur soll
keine Kunstform mehr sein. Das Schreiben wird zur Existenzform. Der Schreibende
wird verletzbar, verletzlich, dünnhäutig.
II: Wer ist Karl Brunke???
Über
das Leben Karl Brunkes sind nur wenige biografische Informationen bekannt. Er
wurde 1887 als Sohn eines Schlossers in Braunschweig geboren. Er besuchte die
Oberschule, brach sie jedoch nach der Obersekunda ab. Er las philosophische
Werke, so Immanuel Kants Kritik der
reinen Vernunft, spielte Klavier und schrieb Bühnenstücke, die er an
mehrere Theater schickte, doch keines wurde je aufgeführt.
1904
trat er eine Lehre am Braunschweiger Bankhaus Spanjer-Herford an. Im Frühjahr
1905 reagierte Karl Brunke auf eine Zeitungsannonce des Kaufmanns Haars im
Braunschweiger Anzeiger, der für seine beiden Töchter Alma und Martha einen
Klavierlehrer suchte. Brunke gab später an, am Klavierunterricht nicht
interessiert gewesen zu sein, nahm jedoch das Angebot an, weil er sich davon
Kontakt zu den beiden jungen Mädchen versprach.
Alle
drei verabredeten sich, am 17. Oktober 1905 gemeinsam zu sterben. Nach einem
Varietébesuch fuhren sie mit einer Droschke in die Monumentstraße 1. Nachdem
die Schwestern Abschiedsbriefe geschrieben hatten, bestanden sie darauf, dass
Karl Brunke einige Probeschüsse abfeuern sollte, um ein Sexualverbrechen
auszuschließen. Dann zogen sie ihre Blusen aus und nahmen gegenüber Karl Brunke
auf zwei Sesseln Platz. Der schoss aus nächster Nähe zuerst in Marthas Herz,
die sofort starb. Danach tötete er Alma mit zwei Schüssen. Auch sie war schnell
tot.
Karl
Brunke war über die Bluttat so entsetzt, dass er die ganze Nacht in der Stadt
herumirrte und sich am Morgen der Polizei stellte.
Im
Prozess, der sich ab März 1906 daran anschloss, wurde Karl Brunke wegen
Dieb-stahls in 20 Fällen (das waren Unterschlagungen im Bankhaus
Spanjer-Herford) und wegen Tötung der beiden Mädchen Martha und Alma Haars zu
acht Jahren Gefängnis verurteilt. Am 1. August 1906 erhängte er sich in seiner
Zelle.
III Warum interessiert sich Thomas Brasch für
Karl Brunke?
Der
Fall Brunke ist gut dokumentiert und spielt eine wichtige Rolle in der
Kriminalliteratur des frühen 20. Jahrhunderts. Zugleich ist er so weit
entfernt, dass er heutzutage den meisten Menschen nicht mehr bekannt ist. Das
bietet der dichterischen Phantasie die Möglichkeit, aus der Sicht des
ausgehenden 20. Jahrhunderts, Leben, Töten und Sterben Karl Brunkes neu zu
erzählen.
Hinzu
kommt, dass Karl Brunke offenbar ein dünnhäutiger Mensch mit Begabung zum
Künstler und zum Kriminellen gewesen ist. Das muss auf Thomas Brasch einen
großen Reiz ausgeübt haben. Bereits in seinem Stück Lovely Rita sagt seine Protagonistin, Künstler oder Krimineller, das seien die einzig wahren Alternativen
zum Bürger. Sie können noch Energien zur Veränderung der sozialen Verhältnisse
freisetzen, über die weder Groß-, noch Kleinbürger mehr verfügen. Als Figuren
in Dramen, Filmen, Romanen und Erzählungen lassen sich in ihren Gedanken und
Taten Widersprüche zuspitzen, entzünden und modellhaft durchspielen. Das ist
etwas, was Thomas Brasch immer interessiert hat.
Doch
seine Lage hat sich nach 1989/1990 drastisch verändert. Die DDR gab es nicht
mehr, nicht die DDR, gegen die Thomas Brasch aufbegehrt hatte und nicht die
DDR, die im Ansatz einen Bruch mit dem Nationalsozialismus vollzogen hatte, wie
er in Westdeutschland nach 1945 nicht versucht wurde. Das Ost-Berlin seiner
Jugend, und das West-Berlin der 1980er Jahre, beide waren ihm abhanden
gekommen. Und erst recht der Riss, der durch beide Deutschländer ging. Wo war
die Wunde, die der Holocaust, das größte Verbrechen in der Tier-und Menschheitsgeschichte,
in Deutschland hinterlassen hatte? Im Fall Brunke sah Thomas Brasch ein
Material, in dem der Riss, der durch die deutsche Geschichte, durch seine
Figuren und ihn selber ging, literarisch-phantastisch
zum Ausdruck gebracht werden kann.
Am
27. Juni 1996 schrieb er an seinen Verleger Siegfried Unseld:
Ich habe an »meinem« Brunke über Gebühr festgehalten, um mich zweier Dinge zu entziehen, die ich 1989/90 als Bedrohung empfand, den Schmerz über den Verlust »meines« Ortes durch die Wiedervereinigung »meiner« Stadt und die Furcht vor der endgültigen Abwesenheit dessen, was man »Lieben« nennt. So habe ich mich in mein Wörtergefängnis versperrt, um beides entbehren zu können.
Thomas
Brasch muss zu Beginn der 1990er Jahre Fragment auf Fragment getürmt und ein
Riesen-Material angehäuft haben. Im Filmporträt von Christoph Hüter erwähnt Thomas
Brasch mehr als 14.000 Seiten. Er zeigt
auf acht blau, rot, grün, weiß, beige und schwarz eingebundene dicke Bände, die
ca. 4.000 Seiten umfassen.
Insa
Wilke spricht von acht verschiedenen Fassungen, deren Textelemente Thomas
Brasch unterschiedlich kombinieren wollte. Wer sollte das jemals lesen? Hatte
sich Thomas Brasch auf dem Wege zum kühneren, entschiedeneren Bau verirrt,
hatte er ihn ins Maßlose gesteigert?
Im
März 2001 sagte Thomas Brasch in einem Interview mit Thomas Wild über den 4.
Band der Jahrestage von Uwe Johnson:
Ich weigere mich, von Peter Weiss ‚Ästhetik des Widerstands‘ mehr zu lesen als die Ausgangssituation vor dem Pergamonaltar. An dieser Stelle hätte ein Samuel Beckett aus Irland kommen müssen und sagen: »It’s enough!« […] Auch die Empfindsamkeit und die Brutalität des Uwe Johnson, seine Berechnung enthält immer die Aufforderung: Stoppt mich! Schriftsteller sein ist ein immer wiederkehrender Zustand, kein Beruf; so wie Musil sagte, Prosa sei keine Schreib-, sondern eine Existenzform. Man muß das Ausatmen lernen und das Wiedereinatmen praktizieren, man darf sich nicht ständig als Schriftsteller betrachten. Diejenigen, die das Erzählen nötig haben, um das Atmen nicht zu verlernen, können das nicht (dauerhaft) zu ihrem Beruf machen, so wie man das Lachen nicht zum Beruf machen kann.
Rainer
Weiss, Thomas Braschs Lektor im Suhrkamp-Verlag, hat aus dem Riesenmaterial
eine knapp 100seitige Fassung destilliert, die 1999 unter dem Titel Mädchenmörder Brunke erschienen ist. Sie
fordert den Leser, ohne ihn zu überfordern. Steckt dahinter eine Strategie
Siegfried Unselds, das neue Buch Thomas Braschs gut zu verkaufen oder der
heimliche Schrei Thomas Braschs: Stoppt
mich!
Vielleicht
beides!
IV „Mädchenmörder
Brunke“ – Plot und Bauplan
Der
Plot ist unkompliziert, die Erzählperspektive mehrfach verschachtelt, und die
Metaphorik des Buches wiegt schwer.
Das Buch beginnt mit einem nur sieben Zeilen langen
Prosa-Fragment eines anonymen Erzählers, gefolgt von einem Traumkapitel eines
ebenso anonymen Erzählers, das zur Geschichte des Architekten D.H. überleitet.
D.H. ist eine Kunstfigur, ein Architekt, der 1956 geboren ist und über Jahre
hinweg in West-Berlin gearbeitet hat. Von seiner Freundin hatte er sich
getrennt, weil beide ganz unterschiedliche Ansichten hatten, wie das Leben und
die Liebe zu zweit gestaltet und erst recht, wie ein gemeinsames Haus zu
entwerfen sei.
Die
Geschichte des Architekten D.H. beginnt wie ein Kriminalroman. Eine
Maßnahmebehörde findet seine Leiche am 27. August 1992. Sie rollt den Fall
mithilfe eines Manuskripts auf, das in seinem Schoße gefunden wurde und in dem
D.H. die letzten sieben Tage seines Lebens aufgezeichnet hat. D.H. fand kurz
nach der Wiedervereinigung in der Gartenlaube seiner Großmutter
Zeitungsausschnitte, die in einem Kistchen lagen. Er stößt auf Widersprüche und
verrennt sich in die fixe Idee, im Gerichtsverfahren sei es gar nicht um Schuld
oder Unschuld des Angeklagten Karl Brunke gegangen, vielmehr habe der Staat
versucht, eine geniale Erfindung Karl Brunkes zu verschweigen. D.H. ist fest
davon überzeugt, dass Brunke und sechs Frauen sich zu einer Neuen Heiligen Familie
zusammengeschlossen hätten, einer Vereinigung, die mittels Prostitution,
Erpressung und Unterschlagung die Erfindung von Brunkes „Liebesmaschine“
konzeptionell und finanziell unterstützen sollte. Diese bleibt jedoch ein
leeres Versprechen. Die Neue Heilige
Familie zerbröckelt. Martha und Alma Haars sowie Karl Brunke beschließen zu
sterben. Brunke hat aber nur den Mord an den beiden Mädchen ausgeführt. Soweit
die Phantasien des Architekten D.H. Er versucht, die Liebes- und Lustmaschine
selbst zu konstruieren und dabei die Geschichte Brunkes zu schreiben. Nach
sieben Tagen hat er sich an der Maschine stranguliert. Die Maßnahmebehörde
findet das mit Sperma befleckte Manuskript auf seinem Schoß und hat das letzte
Wort.
V Das
siebenzeilige Eingangsfragment und ein unglückliches Beginnen
Das siebenzeilige Erzählfragment ist ein
Rätsel-Text:
Als falle eine Zeit, die mir schon immer vergangen
schien, plötzlich wieder über mich her, wie ein großes La-
chen aus einem längst zerfallenen Haus. Wie eine riesige
Faust, aus einem unbekannten Wasser auftauchend und
nach mir greifend, als wolle sie mich in die Tiefe und ins
Weite ziehen, wo du mich lehren wirst, was ich immer ler-
nen wollte, das Lieben und das Lassen:
Wer
ist der anonyme Erzähler und wer das geheimnisvolle Du? Das bleibt ein Geheimnis.
Das
folgende Kapitel beginnt mit folgenden Sätzen
Ich war offensichtlich an den Folgen jenes Unglücks gestorben, das ich erwartet hatte, seit mir das Lieben abhanden und ich mir auf diese Weise vor Jahren vollständig abwesend geworden war.
Dieser Text ist eine Art „Traumerzählung“,
die von ihrer Nicht-Eindeutigkeit lebt. Zuerst fährt der tote Erzähler in eine völlig baum-und pflanzenlose Gegend. Jeder der Passagiere begibt sich in ein Haus, das aus weicher geballter Luft gebaut zu sein schien. Insa Wilke deutet
das zu Recht als Anspielung auf Auschwitz, das Zitieren seines Filmtitels Der Passagier stützt diese
Interpretation. Ich denke aber, Auschwitz ist gemeint und auch nicht gemeint.
Eben damit wird erzählend Peter Weiss‘ Meine
Ortschaft und Christa Wolfs Kein Ort.
Nirgends zu einer Metapher verschmolzen und die Ortlosigkeit ins Bild
gesetzt.
Weiter heißt es:
Nach einigen Tagen oder Jahren, Sekunden oder Lidschlägen würde mehreren Passagieren erlaubt, zu einem Besuch in die Stadt zu fahren.
Damit wird die Zeit zu einem Etwas zwischen
„Irgendwann und Niemals“ entgrenzt.
Der Trick des Erzählers besteht darin,
dass fast allen Metaphern und Chiffren eine Doppelbedeutung eingeschrieben ist.
Als sich der Vorhang vor der Bühne öffnet,
wird der Erzähler mit einem Stück konfrontiert, das
[…] von einem K.B., dem ein Mensch verlorengegangen war oder nie begegnet, auf den er großen Wert zu legen schien, (handelt). K.B. erfand sich auf irgendeine Weise im Verlauf der Handlung eine Künstliche Person oder verwandelte eine Abwesende in eine Anwesende Kreatur.
Als dies ihm nicht glückte, traten zwei Schwestern auf, die ihn baten, sie zu erschießen, was er umgehend erledigte. Am Schluß trat er an die Rampe und rief, nach einer Öffentlichkeit, doch ich war sein einziger Zeuge […].
Mit mir jedoch konnte er als Zeuge nicht rechnen, denn meine Stimme war abgegeben und konnte sich für ihn nicht mehr erheben. So schloss er enttäuscht den Vorhang zwischen uns beiden.
K.B.
steht natürlich für Karl Brunke, aber ebenso für den Schauspieler-Bruder Klaus
Brasch. Für beide kann der Erzähler seine Stimme nicht erheben, denn ihm war
das Lieben und Lassen abhanden gekommen. Und als Toter muss er stumm bleiben, kann
kein Zeugnis mehr ablegen.
Der
Erzähler opponiert mit dieser „Traumpassage“ noch gegen etwas anderes, gegen
die Methode des „allwissenden Autors“, die Thomas Brasch schon früh für sich in
Frage gestellt hatte.
Im
Interview mit Thomas Wild formuliert das Thomas Brasch sehr deutlich, als er
von denjenigen sprach,
[…] die frisch aus dem Krieg kamen, die meinten, die Schwere ihres Erlebnisses rechtfertige es, unreflektiert den Standpunkt des allwissenden Erzählers aus dem 19. Jahrhundert einzunehmen – ein Erzählerstandpunkt, der meint, er könne einem alles in die Ohren schmieren, sei es per Honig oder per Schmerzensschrei.
Es
geht also schon in diesem Eingangskapitel um alles, um die Art des Erzählens
und des Schreibens. Denn, so fährt Thomas Brasch in seinem Interview aus seinem
letzten Lebensjahr fort, der Erzähler dürfe den Leser nicht überwältigen, und
das habe er von Johannes Bobrowski und Uwe Johnson gelernt, es bedürfe der
Kühle des Erzählens, der Temperatur des
Herbstes.
Doch
zurück zum toten Erzähler des Eingangskapitels. Er verlässt das Theater,
begegnet dem Schaffner, der nun ein Droschkenkutscher war und bittet ihn, in
Berlin zu bleiben. Das würde ihm gewährt, wenn es ihm gelänge, die Hast aus
seinem Leben und seiner Arbeit abzutun. Er fährt nach Hause, an seiner
Wohnungstür befindet sich ein Schild mit dem Namen Brunke. Er setzt sich an den
Küchentisch mit den Zeitungen des Jahres 1905 und es ist ihm ist zumute,
Als würde ich aus einem Schlaf in einen anderen hinübergleiten, der mir vorgeschrieben war wie ein fremdes Buch, das ich Seite um Seite abschreiben mußte, um am Ende wieder aufwachen zu dürfen…
VI Halluzinierendes Schreiben
und dokumentarische Recherche
Im
nun folgenden Kapitel wird im Stile eines Kriminalromans durch eine nicht näher
benannte Maßnahmebehörde der Tod des Architekten D.H. aufgeklärt. Der sachliche
Behör-denton kontrastiert scharf mit dem überhitzten halluzinierenden Schreiben,
in dem sich D.H. immer mehr auf Karl Brunke zuschreibt und sich in diesen
hineinversetzt.
Seltsamerweise
findet die Maßnahmebehörde, dass ein Schriftvergleich zwischen den
Aufzeichnungen des Architekten D.H. und hinterlassenen Aufzeichnungen des
Mädchen- und Selbstmörders Karl Brunke ergeben hat, dass sich beide
Handschriften zum Verwechseln ähneln. Tatsächlich ist die Maßnahmebehörde der
Meinung, Karl Brunke habe völlig Besitz von D.H. ergriffen. Zudem würden seine
Sätze bis zum Schluss immer zusammenhangloser. Deshalb hat sich die
Maßnahmebehörde mit Mehrheit entschieden, die folgenden Kapitel
zusammenzufassen, bis auf eine Ausnahme, die sich der Leiter der
Maßnahmebehörde ausbedungen hat. Das ist Brunkes Bericht über die Tage und
Stunden vor dem Mord an den beiden Schwestern und eine seltsame Imagination, in
der die Zeit still gestellt ist:
Der Wind weht, wie er immer weht, aber er bewegt mich nicht, den Zylinder des Herrn Oehlmann weht er ihm vom Kopf. Ich bin eine Maschine, also verlasse ich die Droschke, um dem Herrn Oehlmann seinen Zylinder zu bringen, und als ich den Fuß auf die Stufe der Droschke setze, bleibt der Regen stehen und der Wind und die Welt und die Zeit und mein Leben, und ich sehe zwei Wege vor mir […]
Ein
Weg wäre, sich eine Biographie diktieren zu lassen, die ihn alt werden lässt,
und der andere Weg, wieder in die Droschke einzusteigen. Im Futur wird erzählt,
wie es weitergehen wird, der Mord an Alma und Martha Haars, die
Selbstauslieferung an den Staat, die Vorbereitungen zur Selbsttötung. In diesem
Kapitel, das Wort und Totschlag
übertitelt ist, verschmilzt D.H. in seinen Halluzinationen so sehr mit Karl
Brunke, dass sich Brunke wiederum halluzinierend und schreibend auf die Zukunft
zubewegt:
Ich, der hier mit dem Zylinder sitzt, ewiger Bräutigam oder Totengräber, und meinen unsichtbaren Bindfaden schon um den Hals trage, der mich verbinden wird, denen nach mir, ich, der ich endlich das Wort weiterrufe vom Anfang dieses Jahrhunderts, an dem das Vergehen der Liebe beginnt bis zum Ende, an dem einer meinen Ruf hört, am Ende dieses Jahrhunderts, das diese Liebe ganz beerdigen wird, aber der eine wird es hören und der wird es weitersagen, dieses Wort
Hier
bricht das Manuskript D.H.‘s ab, der im Zustand der durch den Gebrauch der
Liebesmaschine entstandenen Dauererektion sich so sehr auf Brunke zugeschrieben
hatte, dass beide nicht mehr zu unterscheiden waren.
Es
folgt ein Abschnitt, der allerdings durchgestrichen ist. Darin verfügt D.H.,
dass ein Schriftsteller, der eine Pause brauche beim Herstellen künstlicher
Charaktere, sich einen zweiten Beruf verschaffen und sein Manuskript
restaurieren dürfe. Er sei dann kein Schriftseller mehr, sondern ein
Restaurator. Das werde ihn das Atmen wieder lehren, vielleicht auch das Lieben
und das Schreiben. Er dürfe das Manuskript unter seinem Namen veröffentlichen,
aber nicht
„in einem Buchverlag in das Gefängnis der Buchdeckel spannen, sondern nur an Zeitungskiosken und Kaufhäusern einbinden.“
So
steht es geschrieben. Quer über die Seite verläuft der Strich. Der
erzählerische Witz ist: Das Geschriebene gilt ebenso wie es nicht gilt!
Nun
ist es Zeit für eine Nachbemerkung der Maßnahmebehörde
[…] hier enden die Aufzeichnungen des Architekten D.H. mit dem oben erwähnten Strich quer über die Seite, des von dem letzten lebensspendenden Saft eines Toten, offenkundig, wie die Gerichtsmediziner behaupten, ohne sein Zutun, nur Kraft seines Gedankens und der Abschnürung des Blutes aus dem Gehirn sowie dessen Zuführung in sein Geschlechtsorgan in eine märkische Nacht und in sein Schreiben vertaner Anstrengung.
Gezeichnet
Die Maßnahmebehörde
PS: Über jede Liebe kommt das Gesetz
PPS: Erzählen heißt atmen lernen
PPPS: Sucht Brunke
???
VII Thomas wird klüger
Das Buch beginnt mit einem verrätselten
Fragment und es endet mit drei Rätsel-Sätzen. Eigentlich sollten wir es dabei
belassen, wäre nicht beim Lesen die Lust zum Lösen der Rätsel aufgekommen.
Thomas Brasch wird uns dabei helfen. Er hat es auf die lapidare Formel
gebracht: Brunke bringt sich um – D.H.
wird irre – Thomas wird klüger, findet etwas über sich heraus und über’s
Schreiben.
Zugegeben, der Aufwand dafür ist maßlos.
Vielleicht hat Thomas Brasch mit den Brunke-Manuskripten den Roman
revolutioniert und zugleich ad absurdum geführt?
Meine Deutung der drei abschließenden
Rätsel-Sätze ist ziemlich einfach.
Ich denke, Thomas Brasch hat so lustvoll
mit dem Material gespielt, dass er das blanke
Wesen, dieses Traumwesens ohne Haut, nicht nur in den Kopf des Architekten
D.H. kriechen ließ, sondern er hat es durch einen Spalt in der bürokratischen
Struktur in die Maßnahmebehörde eingeschmuggelt, sodass nun sogar behördlich
festgeschrieben ist:
Erzählen lernen heißt atmen lernen. Und Sucht Brunke.
Das heißt: Wer wirklich erzählen will,
darf sich nicht von den Marktgesetzen leiten lassen, muss den Rhythmus des
Lebens, das Ein-und Ausatmen, im Lieben und im Schreiben finden.
Eine Möglichkeit kann darin bestehen, dass
Freunde, Leser, Interessierte, sich dem Brunke-Material zuwenden und nach neuen
Kombinationen der Textbausteine suchen, vielleicht das blanke Wesen darin entdecken und verstecken.
Möglicherweise war für Thomas Brasch das
Verstecken des blanken Wesens, das
Ver-rätseln und Verschachteln der Erzähl-Ebenen und die konsequente Abwesenheit
des Autors in seinem Text eine „lebbare Form“ der Anarchie und der Revolte, der
Wunsch und die Möglichkeit, in der eigenen Haut zu bleiben und sie so dünn
werden zu lassen, dass er die gesellschaftlichen Luft-und Erdbewegungen wieder
deutlicher verspürte, um sie zur Sprache zu bringen, um schreibend zu
existieren, zu atmen und zu lieben. Vielleicht ist es auch ganz anders.
Versuchen Sie, es herauszufinden.