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die horen, No. 281 (2021)

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Michael Braun

Zeitschrift des Monats

die horen No. 281 (2021)

DER HEILIGE JOSEPH UND DER PHÄNOMENALE CHARLES

Als im März 2019 der Literaturwissenschaftler Jürgen Krätzer starb, der sieben Jahre lang als Herausgeber die Redaktion der horen geleitet hatte, schien das Schicksal der traditionsreichen Zeitschrift besiegelt. Einige Wochen lang war unklar, ob die horen unter dem Dach des Wallstein Verlags überhaupt weitergeführt werden können. Zwei Jahre später darf man konstatieren, dass die Zeitschrift nicht nur vital weiterlebt, sondern sich unter der Regie des neuen Herausgeber-Duos Andreas Erb und Christof Hamann den Platz unter den Top Five der literarischen Periodika zurückerobert hat. Besonders das aktuelle Heft No. 281, das gleich vier lesenswerte und z.T. aufregende Dossiers versammelt, ist eine ganz außerordentliche Komposition mit aufschlussreichen Fundstücken aus dem Bereich der zeitgenössischen Kunst und der internationalen Lyrik. Den Auftakt im Heft bildet eine der letzten Arbeiten Barbara Köhlers, eine kleine Text-Serie mit dem Titel GRUNDRECHT, die die Sprachkünstlerin noch mit Fotografien ergänzen wollte, wozu es durch ihre rasch fortschreitende Krebserkrankung nicht mehr kam. GRUNDRECHT umkreist in der Barbara Köhler eigenen Akribie einige Fundamente unserer Sprachpraxis. So entsteht ein schönes Plädoyer dafür, die apodiktische Rede von der „Freiheit des Einzelnen“ lieber als offenere Reflexion anzulegen, als „Freiheit der Einzelnen“, für die nicht ein Einziger kämpft, sondern um die viele ringen und sich dafür verständigen müssen.
    Das zweite Dossier in den horen liefert – bei schwankenden Erträgen – die Bestandsaufnahme eines Literaturbetriebs, der sich im Lockdown behaupten will – in Veranstaltungen, die nur noch gestreamt werden, vor einem nicht vorhandenen Publikum. Nicht allen Beiträgen gelingt es dabei, über die einschlägigen Frustrations-Chroniken hinauszugelangen. Thomas Böhm erinnert an einer Stelle seiner vierzehn „Fragen an die digitale Lesung“ an die subversive Aushebelung der klassischen Wasserglaslesung durch den Dichter und Aktionskünstler Dieter Roth (1920-1998), eine Szene, die der Verfasser dieser Zeitschriftenkolumne auch einmal erleben durfte, bei einem Festival für experimentelle Literatur und Musik im Jahr 1988. Dieter Roth also beginnt seine Lesung mit einigen Versen, bis er unvermittelt abbricht: „Plötzlich stockte er und murmelte: >Ach, das ist Scheiße.< Er blätterte einige Seiten weiter, begann mit einem anderen Gedicht, erneut unterbrach er sich , rief ärgerlich: >Wieder Scheiße< und suchte ein besseres. Mal las er einen Text zu Ende, um ihn dann mit einer knappen Bemerkung durchzustreichen, mal blätterte er minutenlang unschlüssig in seinen Manuskripten, mal betonte er absichtlich falsch.“
    Von solchen Selbstverstellungen wollte sich der kultisch verehrte Aktionskünstler, ideenreiche Schamane und „Jahrhundertmensch“ Joseph Beuys freimachen. Im Jahr seines 100. Geburtstags werden dem „heiligen Joseph“ zahlreiche Huldigungen dargebracht, wobei es nicht ganz so einfach ist, hier wirklich originelle Fußnoten zu einer längst unüberschaubar gewordenen Forschung beizutragen. In den horen sind es vor allem drei Beiträge, die Aufmerksamkeit verdienen. Der mittlerweile 83jährige Eduard Beaucamp, lange Jahre Leiter der Kunstredaktion der FAZ, erinnert sich, wie er Beuys im März 1967 bei seiner berühmten Aktion „Hauptstrom Fluxus“ beobachten konnte. „Beuys agierte wie in Trance in einem Wall aus Butter“, so Beaucamp, „stach mit seinem Eurasienstab in die Fettklumpen, biss hinein oder wischte, er korrigierte Spuren, die das Publikum hinterließ, hüpfte oder schlitterte auf dem glatten Boden.“  Aus der Sicht des Nachgeborenen untersucht Maximilian Mengeringhaus das Verhältnis des Sprachekstatikers Thomas Kling zu dem von ihm bewunderten Beuys, dem er in seinem frühen Gedichtband brennstabm (1991) gleich zwei Gedichte widmete. Im Gedicht porträt 78, fuchspelz, humboldtstrom, tomatn evoziert Kling u.a. eine Szene aus dem Jahr 1972, als Beuys in einer Aktion in der Düsseldorfer Altstadt gegen die vom damaligen NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau verfügte Entlassung des Künstlers aus seinem Amt als Professor der Düsseldorfer Akademie protestierte. Den bewegendsten Beitrag im Beuys-Dossier steuert die Filmemacherin Carla Gottwein bei, die die Arbeit des Bruderpaars Hans und Franz Joseph van der Grinten rekonstruiert, auf deren Bauernhof in Kranenburg am Niederrhein die legendäre Fluxus-Stallausstellung von Beuys stattfand, in deren Zentrum ein Fisch aus grüner Gelatine stand, der auf einem braunen Holztischchen platziert war. Gottwein würdigt die Arbeit des Bruderpaars van der Grinten wie auch der Brüder Helmut und Claus van Bebber, die sich schon als Kinder für Beuys begeisterten und damals auch eine „Kinderfluxus“-Ausstellung realisierten.
    Den aufregendsten Part in den neuen horen bildet das Dossier über Charles Olson, eine Schlüsselfigur der US-amerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Von entscheidendem Einfluss auf die moderne amerikanische Lyrik war seine Lehrtätigkeit als Rektor am Black Mountain College in North Carolina, eine hohe Schule der Avantgarde, die von Bauhaus-Künstlern 1933 gegründet worden war und sich als selbstfinanzierte Institution 1956 auflösen musste. In den letzten Jahren agierte Olson dort als Mentor zahlreicher poetischer Begabungen, die wie Robert Creeley, Robert Duncan oder Denise Levertov später zu den bekanntesten Größen der US-Lyrik aufstiegen. In Deutschland wurde Olson 1950 von dem literaturbesessenen Einzelgänger Rainer Maria Gerhardt (1927-1954) entdeckt, ein paar Jahre später versuchte ihn Walter Höllerer im muffig-konservativen Lyrik-Milieu durchzusetzen, 1965 erschien eine Gedichtauswahl Olsons in der Edition Suhrkamp in der Übersetzung von Klaus Reichert. Anschließend verschwand Olson von der Bildfläche der deutschsprachigen Lyrik, bis ihn 2011 ein Schreibheft-Dossier wieder der Vergessenheit entriss. In seinem Essay Projective Verse hat Olson 1950 eine wegweisende Poetik der Moderne geschaffen. Als Ordnungsprinzip für die Verszeile bestimmte Olson den Atem: Der Vers „stammt (ich schwörs) vom Atem, vom Atmen dessen, der schreibt … wenn der Atem der Anfang und das Ende ist, Stimme im weitesten Sinne, dann verschiebt sich das Material des Verses.“ In den horen präsentiert nun Esther Kinsky einige Ergebnisse ihrer August Wilhelm von Schlegel-Gastdozentur für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin, die sie im Wintersemester 2017/2018 innehatte. Gemeinsam mit einer Gruppe von Studierenden (Katharina Tönsmann, Michaela Höher, Veniamin Itskovich, Caroline Schmidt) hat Kinsky einige berückende Erst- und Neuübersetzungen aus den Collected Poems von Olson erarbeitet, die nun in den horen zu besichtigen sind. Schon in den wenigen Übersetzungsbeispielen, die akribisch kommentiert sind, wird die poetische Größe des lyrischen Kosmologen und Sprachmystikers Charles Olsons fühlbar. So etwa in dem großartigen Gedicht „König des Waldes König der Toten“: „sterbe im feld/ verzehr dich/ im gewässer// komm hervor/ von dem erdrand/ komm herauf/ aus dem grund// ein steg/ ist vor dir gebahnt/ dahin wo orion liegt/ augenlos“.


Die horen, Nr. 281(2021); Wallstein Verlag, Geiststr. 11, 37073 Göttingen, 232 Seiten, 14 Euro.


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