Dialog mit Bertram Reinecke über seine Prosa "Geschlossene Vorgänge"
Dialoge
Dialog mit Bertram Reinecke über seine Prosa "Geschlossene Vorgänge"
Bertram Reinecke: Geschlossene Vorgänge. Schupfart (Urs Engeler Editor) 2022. 114 Seiten
12,00 Euro.
Lieber Bertram,
in der letzten Erzählung deines Buches „Geschlossene Vorgänge“, mit vier Prosatexten, findet sich folgender Satz: „Ich weiß Dinge über das, was um mich her geschah, die niemand anders weiß.“ Diese Erzählung trägt den Titel „Nachwort“, und ihr Erzähler berichtet von der Rekonstruktion von Texten aus vorgefundenen Sätzen, mithin der Produktion vergangener möglicher Wirklichkeiten. Der Erzähler arbeitet als Aktenvernichter. Mir scheint eines der Hauptmotive in deiner Prosa in der Neuorganisation mehr oder weniger vorgefundenen Materials zu liegen, und darin sehe ich auch einen Link zu Deiner lyrischen Produktion. Kann man sagen, dass du auf eine erzählerische Weise in vier Varianten so etwas wie eine/deine Poetik entwirfst?
Bertram Reinecke:
Dass ich vom Material her arbeite und meine Haltung zum Textgeschehen allenfalls vermittelt aufscheint, ist sicher ein gemeinsames Merkmal zwischen meiner Lyrik und meiner Prosa, auch wenn das vielleicht manchem insofern nicht so auffallen mag, als im Prosaband alle Sprecher darin laut Ich sagen. Die Entscheidung, andere Erzählperspektiven fortzulassen, ist zusammen mit meinem Verleger getroffen. Ausgeschieden sind auch alle Fiktionen, die, sich an Sachtexten anschmiegend, überhaupt nicht einer Seh- oder Erzählinstanz zuordnen lassen. Fort fielen auch alle unmittelbaren Gegenwartstexte. Das ergibt einen runden Band.
Meine Poetik ist sicherlich implizit in den Texten enthalten, ich würde jedoch nicht so weit gehen, zu sagen, dass sie eine Poetik entwerfen. (Abgesehen natürlich davon, dass jeder Text seine eigene Poetik insofern abbildet, als er ein Muster ihrer Anwendung ist.) Vor allem hoffe ich nicht, dass sie dabei allzu stark zusammenarbeiten. Denn wenn meine Poetik damit ausformuliert wäre, was sollte ich als nächstes tun?
Ich glaube, der Eindruck der gemeinsamen Sprache kommt daher, dass sie alle sozusagen historische Erzählungen sind, die anders arbeiten als üblich. Oft haben solche Erzählungen einen personalen oder auktorialen Erzähler. Sie versuchen auch, eine Situation zu umfassen, geschlossen zu sein. Sie wollen dem Leser Zeitkontexte oder historische Personen verständlich machen, indem sie Zeittypisches herausgreifen oder heute Fremdes mindestens implizit erläutern. Hinzu kommen Konzessionen an heutige Lesegewohnheiten. Syntaktische oder vokabulatorische Besonderheiten werden eher als Kolorit eingestreut, als dass wirklich daraus gebaut würde. Weil es meine Texte verbindet, in all diesen Hinsichten anders vorzugehen und im besten Falle dokumenthaft aufzutreten, rücken die Lesenden sie vielleicht intuitiv zueinander?
Ein großer Unterschied zu meiner Lyrik dürfte sein, dass mich in der Prosa auch stark semantische Implikationen des verwendeten Materials interessieren, während ich mich bei Lyrik eher für die grammatischen, syntaktischen und vokabulatorischen Fragen interessiere: In der Kürze des lyrischen Sprechens lässt sich mit wenig Eingriffen aus jeder Aussage die Behauptung des Gegenteils gewinnen, semantische Aspekte werden damit etwas beliebig, sinken zur bloßen Meinungsäußerung. In den größeren Räumen von Prosa (oder Langgedicht) sieht es anders aus.
Dennoch fallen syntaktische oder vokabulatorische Aspekte nicht unter den Tisch. Es interessiert mich, heute geläufige Vorstellungen dadurch zu hinterfragen, dass ich sie mit damaligen Ausdrucksweisen überblende, oder ich hatte Freude zu beobachten, wie fremd die Mittel-schulmathematik wird, wenn in griechischen Maßen gerechnet wird, sie zweitens in einem zeittypischen Fließtext präsentiert ist und wenn sie drittens ganz anders angewendet wird, etwa um kosmologische Überlegungen darauf zu fußen. Interessant ist auch nachzuschauen, was passiert, wenn man Wendungen, die heute verblasste Metaphern sind, umständlich im Zeitkontext als Bild einführen muss usw.
Jan Kuhlbrodt:
Ich würde doch gerne noch einmal auf den Anfang zurückkommen. Ich wollte auch nicht sagen, dass mir die Texte zu theoretisch erschienen, dazu sind sie zu kunstvoll im Reineckeschen Humor gehalten. Aber du entwickelst ja keine realen Vergangenheiten. Schon in der ersten Erzählung bedienst du Dich ja eines mythologischen Stoffes, um ihn einer Uminterpretation zuzuführen, und gewissermaßen in shakespearescher, ironischer Weise einen schuldigen Daidalos präsentieren zu lassen. Aber im Rückgriff stellst du selbst eingeführte Haltung zu den Stoffen in Frage. Kann man sagen, dass du versuchst, sie aufzuwirbeln?
Bertram Reinecke:
Ja, die in „philosophischen“ Texten umlaufenden zwei hauptsächlichen Interpretationen des Ikaros-Mythos finde ich gleichermaßen wenig überzeugend. Entweder wird jemandem mit großem Bombast Angst vor seinen Fähigkeiten eingeredet. An sich eine simple Sache, aber in den Mythos gekleidet, erheischt das einen Anschein der Tiefe, und so wirkt immer derjenige als der Unkundige, der das so platt findet, wie es ist. Umgekehrt gibt es dann noch die Deutung zum romantischen Imperativ: Die Jugend muss es versuchen, auch auf die Gefahr des eigenen Scheiterns. Solche Heldengeschichten vertuschen, dass vorher gründlich etwas schief gegangen sein muss, wenn solche Ermutigungen nötig sind.
Klar, wer immer einen Mythos beim Wort nimmt, wird mit dem Leser keinen Erzählpakt im Sinne realistischer Weltabbildung schnüren können. Ich habe mich aber dennoch bemüht, die fiktive Welt so wenig wie möglich von der geschichtlich gesicherten Wirklichkeit abweichen zu lassen: Ich habe zum Wagenbau recherchiert, eine Promotion zur Ornithologie der Griechen durchgearbeitet, die Mathematik meines Mechanikos nur auf bereits den Babyloniern bekannte Verfahren gegründet usw. Auch wenn die Texte durch das Ich usw. zur identifikatorischen Lektüre einladen, sagen die Figuren natürlich Dinge, die ich merkwürdig, teils sogar scheußlich finde. Natürlich ist mir wohler damit, wenn der Leser das durchschaut. Gleichwohl gibt es auch sehr persönliche Aussagen, die durch das Umfeld ins Uneigentliche gewendet sind.
Jenseits solcher frei flottierenden Uneigentlichkeit habe ich zur Ironie als Mittel ein gespanntes Verhältnis: Wer einem Leser abverlangt, aus der Rede das Gegenteil des Gesagten zu ent-schlüsseln, muss sich des gemeinsamen Weltverständnisses mit dem Leser gewiss sein. Und solcher Gemeinsamkeiten möchte ich mir als Autor nicht unbedingt sicher sein müssen.
Jan Kuhlbrodt:
Shakespeare benutzt ja Ironie weniger, um sich selbst als Autor zu erhöhen, sondern sie ist Moment einer Figurenrede, die einen Mord provoziert, insofern ein Ausdruck von Politik. Aber vielleicht finden sich in deinen Texten ja eben Reflexe auf politische Ironie. Denn der Mechanikos formuliert eine Anklage gegen den herrschenden Diskurs und betätigt sich als Aufklärer, während der Icherzähler im Nachwort die Informationen als Material gewissermaßen frei umgruppiert.
Dein Buch ist für mich auch ein Buch über den Umgang mit Material. Auch wenn der Erzähler oder Briefschreiber, der alte Gottfried, in der kürzesten Erzählung, die sich um vermeintliche Texte Sapphos dreht, doch von einer gewissen Resignation ergriffen ist, als sich seine diesbezügliche These als falsch herausstellt. Aber an dieser Stelle gelingt es Dir, etwas Gedicht in die Prosa zu schmuggeln. Als Trost?
Bertram Reinecke:
Haha, Trost bräuchte ich manchmal eher in der Lyrik! Dort scheint mein Materialansatz auch das Leseverständnis gewohnheitsmäßiger Lyrikleser oft auszuhebeln. Zunächst dachte ich, es läge daran, dass ich sehr entlegenes Material nutze oder daran, dass die Fügung mir oft etwas rau geriet, aber seit ich auch aus geläufigeren Vorlagen geschmeidige Texte fertigte, merke ich, dass diese grundsätzliche Verunsicherung nicht schwindet. Meine Prosa wird hingegen zu meiner Überraschung mitunter auch von Leuten geschätzt, die sonst eher Marc-Uwe Kling als Marcel Proust auf dem Zettel haben.
Ansonsten geht es natürlich auch hier um Trost: Arno Schmidt entwirft die Textkategorie Längeres Gedankenspiel und bestimmt drei Stufen: Das Gedankenspiel erster Ordnung ist pure Flucht, rosarot und produziert Kitsch, im Gedankenspiel zweiter Ordnung tauchen die Probleme des Helden in verwandelter Form wieder auf, werden aber heldisch bewältigt. (Eines seiner Beispiele ist Old Shatterhand.) Das Gedankenspiel dritter Ordnung ist gewissermaßen realistisch, als dass es die Trauer, die Gewalt der Wirklichkeit, verwandelt wieder aufnimmt und nicht vorschnell wegträumt. Und die Frage, was die Realität ist, ist ja nie unpolitisch.
In meinen Vorlesungen früher hatte ich immer darauf Wert gelegt zu vermitteln, dass man ästhetische Urteile nie unabhängig von politischen Fragen fällen kann. (Es gibt keine guten Texte an sich, sondern immer nur vor dem Horizont dessen, was wir tun, glauben und wünschen) Heute muss man eher auf die andere Waagschale ein Gewicht legen und betonen, dass eine zu stark an politischer Aussage interessierte Ästhetik dazu neigt, nur diejenigen weiter zu überzeugen, die ohnehin bereits einigermaßen auf der eigenen Seite sind. In unserer beunruhigenden Welt sind solche gegenseitigen Versicherungen sicherlich von Bedeutung, allerdings scheint es mir, müsste es auch Räume geben, wo man sich im Vorfeld des unmittelbar Politischen unterhalten kann, wo sich noch alle komfortabel fühlen und man dem anderen allenfalls Anregungen zum Weiterdenken gibt, statt seine Meinungen scharf zu konfrontieren.
Gerade auf sozialen Medien wird heute oft symptomatisch gedacht: Wer A sagt, muss gewiss B denken. Und der A sagt, wird behandelt wie einer, der B gesagt hätte und niemand hört recht zu, dass man sich bemüht, C dazustellen. Eine Schließungsbewegung, oder mit Günter Eich könnte man von Zementierung der Wirklichkeit reden. Bei alten Texten staune ich oft, welche Gedanken darin überraschend zusammengehen. Haltungen, von denen man nicht ahnte, dass man sie widerspruchsfrei gemeinsam hegen kann, werden zwanglos eingenommen. Wenn Leser solche öffnenden Momente auch in meinen Texten vorfinden, wäre etwas gelungen. Das meintest Du vorhin vielleicht mit verwirbeln?
Jan Kuhlbrodt:
Ja. So ziemlich das meinte ich damit. Und dieses Moment ist unter anderem das, was mir an deinen Texten viel Freude bereitet. Danke für deine Texte und danke für das Gespräch.
Bertram Reinecke:
Vielen Dank auch meinerseits.