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Derek Walcotts Topografien

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Derek Walcotts Topografien




fear melts / before daylight's beauty, despite all that coughing
Angst taut / an der Schönheit des Tageslichts, trotz all dem Gehuste



Im Rahmen der gleichnamigen Tagung der LMU zu „Vermessungspunkten“ einer literarischen „Raumordnung“ bei Derek Walcott fanden sich Donnerstag, den 22. Mai, der emeritierte Anglist und Komparatist Werner von Koppenfels, der ehemalige Leiter des Hanser Verlages und Lyriker Michael Krüger und als Moderatorin Kathrin Härtl, wissenschaftliche Assistentin für englische Philologie, im Lyrik Kabinett ein, um sich dem Jubilar in Gesprächen zu nähern. Er selber war leider nicht anwesend.
Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass der karibische Dichter, der 1992 den Nobelpreis für Literatur und 2011 für seinen Gedichtband »White Egrets« (»Weiße Reiher«) den T.S. Eliot-Prize erhielt, im Januar 85. Geburtstag hatte und zwischen New York, Boston, Alberta und St. Lucia herumreist, bis ins hohe Alter rastlos.  


Doch der Übersetzer von „White Egrets“, Werner von Koppenfels, brachte im Dialog mit Michael Krüger, der 2012 (bei Hanser) für den Band als deutscher Herausgeber zeichnete, dem Publikum den hierzulande noch nahezu unbekannten Dichter näher.

2013 wurde Koppenfels für die Übersetzungsarbeit an dem Lyrikzyklus von der Stadt Münster mit dem Preis für internationale Poesie ausgezeichnet (wie heuer, 2015, Charles Bernstein und seine Übersetzer). Koppenfels hatte vorab schon vereinzelt Gedichte für Anthologien, z.B. von Emily Dickinson, auch Gedichtsammlungen, beispielsweise von Geoffrey Hill [Link Bericht Geoffrey Hill?] auf Deutsch veröffentlicht, aber bis 2012 noch keinen zusammenhängenden Zyklus.

Aus diesem Grund lag der Fokus der Veranstaltung, die von Kathrin Härtl moderiert wurde, weniger auf der Entwicklung des lyrischen Werks Walcotts, als vielmehr auf den Transkriptionsmöglichkeiten von „White Egrets“ sowie dem Problem der Übersetzbarkeit von Lyrik überhaupt. Obwohl nur drei Gedichte des Autors, natürlich aus dem Zyklus »Weiße Reiher«, vorgetragen wurden, hatte man den Eindruck, dass diese wohlüberlegt in den Diskurs eingebunden waren.  

Jede Übertragung eines Dichters sei ein Act of love, betonte Koppenfels. Die eigene Profession als Anglist bilde dabei die theoretische Grundlage für eine Praxis, die er mitunter auch als ‚praktische Wissenschaft‘ bzw. - genauer - als angewandte Literaturkritik betrachtet, ob der lexikalischen Probleme und der immer wieder entscheidenden Frage, die sich an jeder Stelle von neuem stellt: Geht das auf Deutsch?

Für Koppenfels eine große Herausforderung, in die Tiefe der Texte Walcotts einzudringen. Trotz aller Problematik lexikalischer Mehrdeutigkeiten und nicht zuletzt stilistischen Heraus-forderungen wie Alliteration und Binnenreim, die eine klangliche Konzentration erzeugen und gerade bei Walcotts Lyrik hervorstechen, da die Atmosphäre der Gedichte vor allem aus der Beschreibung von Geräuschen einerseits und klangabbildenden Wortkombinationen andererseits besteht – eine Atmosphäre also, die faktisch nicht übersetzbar ist, sondern von Fall zu Fall neu abgewogen und durch die Textstellen manövriert werden muss.

Exemplarisch wurde dies mit dem Gedicht Nr. 3 illustriert, in dem Hafenarbeiter bei der Arbeit beschrieben werden:

»This was my early war, the bellowing quarrels,
at the pitch of noon, of men moving cargoes
while gulls screeched their monotonous vowels
in complex curses without coming to blows;
muscular men swirling codfish barrels
and heaving rice bags, who had stunted nicknames,
[...] At lunch they ate in the shade
of mountainous freight bound with knots an cinches,
ignoring the gulls with their boulders of bread.«


»Dies war mein früher Krieg: das brüllende Gestreite
von Männern, die im höchsten Mittag Frachten luden,
während die Möwen monoton ihre Vokale kreischten,
nie bis zur Schlägerei, verwickte Flüche fluchend;
sehnige Männer, ließen Stockfisch-Fässer fliegen,
stemmten Reissäcke, hörten auf rudimentäre Namen
[...] Brotzeit machten sie im Schatten
gewaltiger Ballen, verzurrt mit Knoten und Gurten,
nahmen keine Notiz von den Möwen, mampften Brote in

Riesenbrocken.«
(Gedicht Nr. 3, S. 10f)


Sprachlich ist das Poem mit starken Bildern aufgeladen, deren Wörter selbst schon auf eine onomatopoetische Weise zu vibrieren scheinen. Diese spezifische Geräuschkulisse sei natürlich nicht übersetzbar, jedoch könne man sich durch eine freie Übersetzung auch im Deutschen der Atmosphäre nähern.
An manchen Stellen des Gedichts fällt die Eigenständigkeit der Übertragung auf. Koppenfels nimmt etwa für nicknames den Ausdruck rudimentäre Namen, da Spitznamen Rudimente, Abkürzungen der eigentlichen Namen seien und sich zudem durch einen Mangel ein Abgebrochenes zeige, eine Verwundung des Namens. Dies scheint eine Präfiguration auch auf die spätere Erkrankung eines der Hafenarbeiter zu sein, die so schon in die Verstümmelung seines eigenen Namens eingepasst wird.

Prof. Werner von Koppenfels
Fotos: K. Kohm

Dies allerdings sei eine interpretierende Entscheidung, legitimiere sich aber, weil der zweisprachige Band auch das Original zugänglich mache.

Denn eine Übersetzung, so gut sie auch sein möge, sei dennoch nur ein Vorschlag, eine Interpretation, und - wie Koppenfels sagt – bleibe immer angewandte Textkritik, was schon in der Übersetzung des ersten gelesenen Gedichts offenbar wurde.

Michael Krüger beschrieb zudem, wie schwierig es gewesen sei, Derek Walcott zu verlegen, da diesen Dichter hierzulande noch kaum jemand zur Kenntnis genommen hatte, bevor er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Wie die Gedichte von Geoffrey Hill oder Les Murray so ist auch die Lyrik von Derek Walcott noch immer eher ein Geheimtipp, was sich zum Glück langsam zu ändern beginnt.

„Weiße Reiher“ besteht aus 54 nummerierten Gedichten und umreißt in seiner Farbigkeit die topografischen Besonderheiten der Karibik. Die Umgebung mit ihren Menschen und Tieren wird darin thematisiert, aber auch Europa durch den Blick des reisenden Dichters hindurch.

Walcott geht hier den umgekehrten Weg, er ‚kolonialisiert‘ nicht, wie einst die Europäer seine Heimatregion okkupiert und ausgebeutet haben, sondern er integriert das alte Europa in seinen einzigartigen Blick. Besonders Italien hat ihn begeistert. Walcott geht in seinen Beschreibungen der Landschaft und Gebäude wie ein Maler vor, seine Gedichte könnte man mit Aquarellen vergleichen, da besonders die Farben aus den Texten hervortreten. Geräusche und Farben machen die Üppigkeit aus.

Trotz allem durchzieht die späten Gedichte Walcotts aber immer das Thema der Vergänglichkeit und Krankheit. Elegische Töne treten ganz offensichtlich in einem Gedicht zutage, das als Selbstgespräch, als Eigenanrede verfasst ist:

»What? You're going to be Superman at seventy-seven?
Got your weight down? Okay. You've lost seven pounds,
but what you've also lost is belief in heaven
as dear friends die. [...]«


»Wie? Du willst Superman werden mit siebenundsiebzig?
Hast dein Gewicht runter? Na schön, sieben Pfunde
verloren, und auch der Himmelsglaube verliert sich
jetzt, wo deine Freunde sterben.«

(Gedicht Nr. 23 S.102f)

Interessanterweise übersetzt Koppenfels as nicht mit wie sondern mit wo. Der Glaube stirbt also nicht wie die Freunde, sondern zur gleichen Zeit. Die schonungslose Reflexion über Vergänglichkeit, über Alter und Krankheit wird jedoch am Ende mit den hoffnungsreichen und beflügelnden Versen aufgelöst:

»early in the morning to avoid the sun; fear melts
before daylight's beauty, despite all that coughing.«


»frühmorgens schwimmen, meide die Sonne; Angst taut
an der Schönheit des Tageslichts, trotz all dem Gehuste.«

(ebd.)

Und Todesangst ist am Ende durch die Schönheit der Natur gebannt, die immer wieder als milder Tröster auftritt, ohne mystisch aufgeladen zu wirken.

Wie Echos tauchen dabei partielle Zitate anderer Dichter auf, die das Vergangene integrieren und aktualisieren. Zu diesem Brückenschlag von Dichtung zu Dichtung sagt Koppenfels, der Dichter stehe auf den Schultern von Riesen. Gedichte seien zudem Geschenke, die man weitergibt – und der Bilderreichtum Walcotts erscheine als besonders üppiges Geschenk, das mit der Kargheit und Ausnüchterung deutscher moderner Lyrik und der Konkreten Poesie nichts gemein habe.

Besonders komplex erscheint die Übersetzungsarbeit dann, wenn durch Mehrdeutigkeit der Sprache allein schon im Englischen Bezüge entstehen. Das letzte Gedicht des Bandes thematisiert die Insel und analogisiert dabei die Landschaft mit der Tätigkeit des Sprechens. Diese Engführung macht das Setzen des Wortes line, dessen Bedeutung zwischen Inhalt (Bild) und Form (Abstraktion) oszilliert, äußerst bedeutsam und ist im Deutschen so nicht möglich. Das englische Substantiv line bezeichnet nämlich einerseits die Anglerschnur und gleichzeitig die Zeile. An solchen Stellen kommt die Übersetzung unweigerlich an ihre Grenzen. Man transportiere von einer Sprachlandschaft in die andere, manövriere mit landscape und language, beide in diesem letzten Gedicht, das zur Gänze vorgestellt wurde, auf virtuose Weise miteinander verschränkt:

»This page is a cloud between whose fraying edges
a headland with mountains appears brokenly
then is hidden again until what emerges
from the now cloudless blue is the grooved sea
and the whole self-naming island, its ochre verges,
its shadow-plunged valleys and a coiled road
threading the fishing villages, the white, silent surges
of combers along the coast, where a line of gulls has arrowed
into the widening harbour of a town with no noise,
its streets growing closer like print you can now read,
two cruise ships, schooners, a tug, ancestral canoes,
as a cloud slowly covers the page an it goes
white again and the book comes to a close.«


»Die Seite hier ist eine Wolke: hinter dem fransigen Saum
springt umrißhaft mit Bergen eine Landzunge vor
und schwindet wieder und was dann aus wolkenlosem Blau
auftaucht, ist das geriefte Meer
und die ganze sprechend benannte Insel, ocker gefaßt,
die Täller in Schatten getaucht, eine gewundene Straße
fädelt die Fischerdörfer auf, still brandet es weiß
die Küste entlang, wo lautlos ein Möwenzug seinen Pfeil
nach dem sich öffnenden Hafen der Stadt abschießt,
ihre Gassen kommen näher wie die Zeilen, die du liest,
zwei Kreuzfahrer, Schoner, ein Schlepper, althergebrachte Kanus,
während die Wolke langsam die Seite bedeckt und sie
wird wieder weiß und das Buch kommt zum Schluß.«

(Gedicht Nr. 54, S. 166f)          


Katharina Kohm


Derek Walcott: Weiße Reiher. Gedichte. Englisch/deutsch. Übersetzt von Werner von Koppenfels. München (Carl Hanser Verlag) 2012. 184 Seiten. 17,90 Euro.

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