Dennis Mizioch: istanbul hat nie zu mir gesprochen
istanbul hat nie zu mir gesprochen
jetzt aber spreche ich von einer stadt 
und ihrem schweigen. von den anglern 
am hafen, die aus dem bosporus schöpfen 
wenn die sonne den wellen entbricht 
von den greisen im schatten der mandelbäume 
und ihren krausen fingern, wie sie plastik- 
steine über das backgammonbrett schieben 
gleichgültig und bestimmt. von den sätzen 
die länger werden und den suren 
die kürzer werden. ich spreche von fisch-
gräten in müllbeuteln und krebssoldaten 
an markständen, im aquarium 
patrouillierend, von rechts nach links 
von links nach rechts. ich spreche 
in die leerstellen, kratze worte 
aus den fugen, lehne mich an sand-
steinwände und werde mir eins 
dass ich verliere. ich verliere 
das bewusstsein für die vergangenheit 
und das bewusstsein für die zukunft 
verliere in den banalsten momenten 
wenn die bierdose beim öffnen zischt 
wenn ein delfin aus dem meer springt 
wenn wellen voranpeitschen und 
sich zurückziehen, verliere gedanken 
die es nie gegeben hat, verliere 
alle begriffe in meinem begreifen 
jetzt aber spreche ich von graffiti-
parolen auf mauern, farbstoffmolekülen 
an mineralgefügen, ich spreche von wahl-
plakaten, die sich über gassen spannen 
und im wind wehen wie gedichte 
ich spreche von menschenmassen 
auf dem taksim, menschenmassen 
am flughafen, menschenmassen 
in kirchenruinen und menschenmassen 
auf soldatenfriedhöfen. von menschen
die über ein erdbeben sprechen aus angst 
über ein erdbeben schweigen zu müssen 
ich spreche von alarmanlagen an türbalken 
blinkenden segensbitten in der nacht 
von überwachungskameras, von nacht-
wächtern, hunden, katzen; 
und ich wünschte, mein schweigen 
würde so blinken wie das der alarmanlagen 
und ich wünschte, meine stimme wäre der wind 
der über die meerenge fegt
durch häfen, gassen, geöffnete fenster 
der wind, der alles zum flattern bringt 
ich wünschte ich wär ein lautsprecher
an einem minarett, ein blechtrichter 
hoch über der stadt 
der mit jedem gebet erzittert
Aus Dennis Mizioch: istanbul. eine matrjoschka, 2016.
 
 
