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Denise Levertov: Fenster-Blende

Gedichte > Münchner Anthologie

Denise Levertov

Fenster-Blende


Viel ereignet sich, wenn wir nicht da sind.
Viele Bäume, nicht nur jener berühmte, fallen und fallen
erneut im Wald. Wir sehen es nicht, aber etwas sieht es
oder jemand, eine andere Sorte Jemand,
eine andere molekulare Variante, oder auch Wesen,
die gar nicht aus Molekülen bestehen; oder nichts, niemand:
aber etwas hat stattgefunden, sich im Raum befunden,

war anwesend, abwesend,

kam zurück. Vieles wandert zu offenen Fenstern hinein, aus ihnen hinaus,
wenn unsere Aufmerksamkeit anderswo ist,
so wie unsere Seelen manchmal in unsere Körper und aus ihnen wandern.
Jeder wusste das früher,
aber seit hundert Jahren oder länger
verlieren wir unsere Erinnerung, schuppen, haaren
wie Tiere oder Pflanzen, denen nicht wohl ist.
Dinge ereignen sich so oder so,
ob wir uns ihrer bewusst sind oder ob
das Garagentor per Fernbedienung herunterfährt über unser
Wiedererkennen, absperrt, abschneidet –.
Wir sind Tiere und Pflanzen, denen nicht wohl ist.
Uns ist nicht wohl, aber während wir wegschauen,
auf die andere Seite des Fallbeils oder durch
den Spalt mit Tageslicht, der geringschätzig offen gelassen wurde unter der Blende,
streckt sich ein sehr starker, leuchtender Arm herein,
oder streckt sich hier im Zimmer aus einem unverdächtigen Ort,
wo er ruhig gewartet hat, zu uns heraus.
Und obgleich er vielleicht gar nichts mit uns zu tun hat
und obgleich wir seine Formen nicht erkennen können,
ändert sich dabei doch unser Zustand:
Zellen verschieben sich, ein Knistern, kaum hörbar, wie von Tarlatan,
flimmert durch geschlossene Bücher, ein oder zwei Blätter
fallen und wenn wir sie lesen, können wir, falls wir ehrlich sind,
erkennen, dass wir nicht geträumt haben,
nicht geträumt haben, sondern erneut Zeugen waren.


(Aus: Denise Levertov: „Breathing the Water“, New York 1984. Übersetzung Karin Fellner)

Denise Levertov

Window-Blind


Much happens when we’re not there.
Many trees, not only that famous one, over and over,
fall in the forest. We don’t see, but something sees,
or someone, a different kind of someone,
a different molecular model, or entities
not made of molecules anyway; or nothing, no one:
but something has taken place, taken space,

been present, absent,

returned. Much moves in and out of open windows
when our attention is somewhere else,
just as our souls move in and out of our bodies sometimes.
Everyone used to know this,
but for a hundred years or more
we’ve been losing our memories, moulting, shedding,
like animals or plants that are not well.
Things happen anyway,
whether we are aware or whether
the garage door comes down by remote control over our
recognition, shuts off, cuts off –.
We are animals and plants that are not well.
We are not well but while we look away,
on the other side of that guillotine or through
the crack of day disdainfully left open below the blind
a very strong luminous arm reaches in,
or from an unsuspected place, in the room with us,
where it was calmly waiting, reaches outward.
And though it may have nothing at all to do with us,
and though we can’t fathom its designs,
nevertheless our condition thereby changes:
cells shift, a rustling barely audible as of tarlatan
flickers through closed books, one or two leaves
fall, and when we read them we can perceive,
if we are thruthful, that we were not dreaming,
not dreaming but once more witnessing.

(Aus: Denise Levertov: „Breathing the Water“, New York 1984. Übersetzung Karin Fellner)

Karin Fellner


Wir päppeln das Ich. Ich als Wunsch-Organismus will alles überziehen, Verflechtung ins Imaginäre, Gameworld und Kapital. Thesen, dass ‚Ich‘ Illusion ist, nicken wir ab und weg. Oder wir machen sie uns nutzbar, um nicht belangt zu werden, ewige Keksdosenkinder.

Diesen ubiquitären Ich-Illusionsapparat stellt Denise Levertov (1923–1997) mit ihrem Gedicht „Window-Blind“ in Frage und in Relation. Die Ich-Sphäre wird überschritten, das Andere, das Draußen als wirklich wahrgenommen. Gleich der erste Vers setzt die Grundthese: Dass sehr viel geschehe, „wenn wir nicht anwesend sind“. Dass da etwas jenseits unseres abgesteckten Ich-Feldes vonstattengeht, steht in der Denkbewegung des gesamten Gedichts außer Zweifel. Und es will damit mehr und anderes als nur eine poetische ‚Illustration‘ sein von psychologischen und hirnphysiologischen Erkenntnissen bezüglich der Ohnmacht des Ich-Bewusstseins.

Das Koan vom fallenden Baum im Wald soll gar nicht ‚gelöst‘ werden, sondern wird als Beleg angeführt für das Andere. Unabhängig von unserem Aufmerken, „fallen und fallen“ da Bäume und es gibt Präsenzen, die dieses Fallen bezeugen: Andere Lebewesen, die unserer molekularen Grundstruktur nicht einmal entsprechen müssen. Ist das Alienkult oder Science-Fiction? Die klare Sprache Levertovs, die jeden Konjunktiv, jede Unschärfe zu vermeiden sucht, scheint auf etwas anderes zu zielen. Sie unterläuft die vertraute Kontrastierung Wissenschaft - Übersinnliches; in rhythmischer Hypotaxe werden Prozesse zueinander in Beziehung gesetzt, nicht gegeneinander ausgespielt. Der im dritten Vers beginnende, sich langsam ausfaltende Satz über „andere Wesen“ endet vier Verse später mit einer Wendung, die das bislang Gesagte nicht aufhebt, aber gedanklich noch einmal weitet: Selbst wenn „nichts, niemand“ da gewesen sein sollte, um das Fallen zu bezeugen, „something has taken place, taken space“. Dies ist eine der wenigen Stellen, an denen Levertov akzentuierend den Sprachklang einsetzt, um die Argumentation zu verdichten.

Wie hinter einer Jalousie, einer „Blende“, einem heruntergelassenen „Garagentor“ seien wir teil-„blind“, sagt das Gedicht, würden verhindert am freien Austausch mit dem Draußen. H.D. schrieb über diese Abschottungstechnik des Ich: „Unsere Geister [minds], all unsere Geister, sind fade kleine Häuser. […] Jedes gemütliche kleine Heim beschützt eine gemütliche kleine Seele – und eine Wand an der Rückseite schließt jede Kommunikation mit der Welt dahinter völlig aus. […] Draußen ist ein großer Weingarten und Trauben und Ausgelassenheit und Wahnsinn und Gefahren.“
¹
„Früher“ sei ein allgemeines Wissen vom Wechselstrom der Phänomene, von der Beweglichkeit der „Seelen“ vorhanden gewesen, so Levertovs Gedicht. Das ist ein Satz, der mit dem Zurückzucken ‚aufgeklärter‘ Leser zu rechnen scheint. Doch wie viel ist uns im Lauf der Geschichte tatsächlich entglitten, was ist verdrängt, apokryph, ausgerottet worden?

Das Nicht-Anwesend-Sein, mit dem das Gedicht anhebt, wird im zweiten Teil nicht nur als physische Absenz aufgefasst, sondern auch als ein Nicht-ganz-bei-sich-Sein der Menschen, die ihren defizitären Zustand verdrängen, indem sie „wegschauen“. Wir seien wie „Tiere und Pflanzen“, denen es nicht gut geht. Diese Anamnese, dass es uns in unserer Abschottung und Verdrängung nicht gut gehe, wird mehrfach wiederholt und bildet so für die folgende Argumentation eine Art Fundament.
Trotz unserer geistigen Absenz befänden wir uns inmitten interferierender Phänomene, würden von ihnen sogar beeinflusst. Sagt das Gedicht. Und lässt plötzlich einen „Arm“ ins Zimmer hineinragen, durch einen Fensterspalt oder aus einem „unverdächtigen Ort“. In anderem Kontext wäre dieser „Arm“ ein veritables Gruselmotiv. Hier haftet ihm das freudsche Un-heimliche des vertrauten Unvertrauten an, doch wirkt die Arm-Präsenz, „sehr stark und leuchtend“, eher wie eine Verkörperung des Numinosen. Sie wird zum Fakt erklärt, zum feinstofflichen Fakt sozusagen, mit stofflicher Auswirkung: Sobald der Arm erscheint, verschieben sich „Zellen“, „Blätter“ fallen, ein feines Knistern geht durch alles. Selbst wenn wir uns nicht erinnern, was beim Austausch mit dem Anderen geschehen ist – so Levertovs Gedicht „Sojourns in the Parallel World“
²  –, sind wir dadurch doch „ein wenig verändert“ worden.

In „Window-Blind“ gibt es ein sprachliches ‚Blinzeln‘, hervorgerufen durch die zusammengebundenen Gegensatzpaare: „present, absent“, „in and out“, „reaches in, reaches outward“. Dieses Wenden, Sich-einander-Zuwenden, Einander-verwandt-Sein von sonst gegensätzlich benutzten Begriffen findet sich in fast jedem Satz und manifestiert den Austausch auf der sprachlichen Ebene.
Die zweifache Wiederholung am Ende – „not dreaming, not dreaming“ – verdeutlicht noch einmal, dass es der Dichterin nicht um ein Spiel mit Träumen, Assoziationen und Phantasmen geht. Das Gedicht richtet die Aufmerksamkeit vielmehr auf feinstoffliche Vorgänge außerhalb des Ich. Wie zahlreiche andere von Levertovs Gedichten konfrontiert auch „Window-Blind“ uns mit unserer Befähigung zum Überschreiten des Ego-versums, zur Epiphanie. Es ermuntert zum Bezeugen jener subtilen Prozesse, die nur in bestimmten Momenten oder Zuständen ins Bewusstsein rücken. Vielleicht immer dann, wenn wir der Anleitung Simone Weils folgen: „Allem, was ich ‚ich‘ nenne, das Licht der Aufmerksamkeit entziehen und es auf das Unvorstellbare richten.“
³


¹ H.D. (Hilda Doolittle), „Notes on Thought and Vision“ (1919), übersetzt von Günter Plessow, Solothurn/Badenweiler/Berlin 2011, S.32f.
² Aus: Denise Levertov, „Sands of the Well”, New York 1996.
³ Simone Weil, „Schwerkraft und Gnade“ (1947), München 1989, S. 162.

Denise Levertov (1959)










Karin Fellner

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