Delfi #1 Tempel
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Hans-Karl Fischer
Delfi #1 – Tempel. Mit Beiträgen von Deniz Utlu, Eileen
Myles, Enis Maci, Esther Dischreit, Eva Tepest, Lauren Groff, Maaza Mengiste,
Maria Stepanova, McKenzie Wark, Mohamed Mbougar Sarr, Noemi Y. Molitor, Ocean
Vuong, Olivia Wenzel und Senthuran Varatharajah. Berlin (Ullstein/Claassen)
2023. 152 Seiten. 15,00 Euro (13,00 Euro als Abo = 26,00 Euro im Jahr).
NEUE LITERATURZEITSCHRIFT „DELFI‟
Das Wort „Tempel‟ dient als Motto für das erste Heft der
Literaturzeitschrift „Delfi‟; man hat jedoch den Eindruck, daß das Konzeptuelle
an dem Heft weit über dieses Stichwort hinausreicht. Denn die zahlreichen
Geschichten folgen oft einem Schema, in dem sich der Erzähler oder die
Erzählerin an einen Ort begibt, der idealtypisch im vorderasiatischen Raum
liegt und an dem er, bzw. sie, seiner oder ihrer kulturellen Wurzeln innewird.
Die Erzählungen sind zutiefst in der Zeitgeschichte und in der Biographie der
Erzählenden verankert. Sie werden gelegentlich von illustren Gestalten der
Kulturgeschichte flankiert, so daß sie der Hauch von kulturgeschichtlichen
Essays umweht. So wenn Eva Tepest, allerdings aus Rom, zwischen die Briefe an
ihre Bekannten einen Brief mit der Anrede an den „Lieben Sigmund‟ einflicht, in
dem sie das Verhältnis Freuds zur lesbischen Erotik überdenkt: „In einer
Fallstudie schreibst du, daß Lesben krankhaft ihren Müttern verhaftet geblieben
seien. Deine namenlose Analysandin verwandelte sich demnach in einen Mann und
nahm ihre Mutter anstelle ihres Vaters zum Objekt ihrer Liebe. Praktisch: Wenn
Lesben eigentlich Männer sind, ist die Geschlechterordnung wiederhergestellt.‟
(Eva Tepest, The Mountains so vast. Eine lesbische Wallfahrt). Die erotische
Orientierung von Minderheiten oder die Unsicherheit, ob etwa ein Beischlaf
einvernehmlich geschehen sei, spielen eine nicht ungewichtige Rolle. Sie
ist verschränkt mit der Rolle der Orte: Orte, von denen oft nur mithilfe einer
Landkarte zu eruieren wäre, ob sie erfunden sind oder nicht. Auch die rue du
temple in Paris darf nicht fehlen.
Beklemmend die Geschichte „Der Laderaum‟ von Mohammed Mbougar Sarr, in der man angesichts der „menschlichen Waren‟ im Laderaum eines Handelsschiffs teilweise an die Flüchtlinge von Lampedusa, teilweise aber an das ökonomische Unrecht denkt, das den europäischen Wohlstand absichert. Obwohl die meisten Geschichten im Ausland spielen, hat man den Eindruck, daß in ihnen die Sache des Inlands verhandelt wird. Während eben nicht Gegenstände, sondern einschneidende Zeitereignisse die Erzählungen vorantreiben, münden sie im Laden eines Juweliers oder Devotionalienhändlers, in dem die Gegenstände als archäologische Überbleibsel das Authentische wiedergeben. So könnte man meinen, hier sprechen Historiker als die bekannten Propheten der Vergangenheit, wie es die Einleitung suggeriert.

Doch mehr als die zwiezüngigen Sprüche der Pythia, die einzig in den delphischen Apollotempel gehen durfte, assoziiere ich sie mit dem Tempelschlaf der Kranken im epidaurischen Asklepiostempel, einer Art Anamnese, bei der die Entstehung der Krankheit durch einen Traum deutlich wird, den der Gott eingegeben hat. „Tempel‟ ist überhaupt das Motto. Das Wort ist von der Religionsgeschichte belastet. Dies wird vollends klar in dem drittletzten und insbesondere in dem vorletzten kosmogonischen, aber auch eschatologischen Bericht, in dem alles Leben aus den Elementen beginnt, danach untergeht und dann doch wiederaufersteht.
Dabei geht’s nicht ohne das Vielfältige und Bunte ab: Eine komische Bildergeschichte, in der sich die der Athene zugesprochenen Eulen fragen, wer überhaupt ihre Patronin ist. Irrlichternde Thesen stellen die Eulen auf: Athene sei nicht aus der Schläfe des Zeus, sondern aus seinem Mund geboren; nicht aus dem Bauch des Kronos habe Zeus seine Geschwister, sondern Athene habe ihre Geschwister - welche ? - aus dem Bauche des Zeus befreit. Man sieht in diesem Comic von Noemi Y. Molitor, wie falsche Gerüchte verbunden sind, denn Kronos hat seine Kinder gespien, und so sind sie aus seinem Mund geboren worden; so wird die Geburt Athenes aus dem Mund des Zeus erfunden.
Die Zeitschrift, die auch einige ansprechende Gedichte enthält, gibt als „Dramatik‟ ein Interview mit der äthiopisch-amerikanischen Schriftstellerin Maaza Mengiste wieder, das zum Motto des Heftes dezidiert Stellung nimmt: „Der Tempel ist ein Gebäude, das etwas Geistiges in sich tragen soll. Ich weiß nicht mehr, ob es genauso in der Bibel steht oder nicht, aber der Körper wurde oft mit einem Tempel verglichen‟.
Die Herausgeber der Zeitschrift sind Fatma Aydemir, Enrico Hippolito, Miryam Schellbach und Hengameh Yaghoobifarah. „delfi‟ erscheint in Berlin zum Preis von 15 Euro (Abonnement 13 Euro).