Deborah D.E.E.P. Mouton: Berichtenswert
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Monika Vasik
Deborah D.E.E.P. Mouton: Berichtenswert. Gedichte. Engl. /
dt. Übertragung und Nachwort: Maria Meinel. Nettetal (ELIF Verlag) 2021. 120
Seiten. 20,00 Euro.
„Schau, wie die Nachricht zündet“
Deborah D.E.E.P Mouton wurde 1985 in Kalifornien geboren und
lebt in Houston (Texas) ... nein, ich sollte anders beginnen: Sie ist
Performancekünstlerin ... eine schwarze Spoken-Word-Aktivistin ... okay, aber
... eine Woman of Colour, die als Poetry-Slammerin ... heikel, Dichtung und
Poetry-Slam ... war erste afroamerikanische Stadtschreiberin von ...
Schon sind wir in Moutons Lyrikband, der zweisprachig
vorliegt und um die Frage kreist: was ist berichtenswert? Wer berichtet wann
was wie über wen? Mit welchem Hintergrund und mit welcher Intention? Im Gedicht
„Filter“, das in der Mitte des Buchs zu finden ist, zeigt Mouton die
sensationslüsterne Manipulation von Meldungen, wenn je nach Wortwahl dieselbe
Geschichte ganz anders erzählt wird:
SchwarzerSohnBruderJugendlichergehtrenntflüchtetmit einemFreundBekanntenKomplizendie Straße hinunter ...als die Polizei sieprovoziertprofiliertroutinemäßig kontrolliertDer Polizistvermutetewusste umdie Beteiligung desjungen MannesJugendlichenGangstersan einem Ladendiebstahl vonBilligtabakZigarillosZigarrenZeugen sagen aus, der Junge habesich ergebenDeckung gesuchtden Polizisten tätlich angegriffenweshalb dieser mehrmals schießen mussteauf denunbewaffnetenbedrohlichenKörper
Das Gedicht führt die Bedeutung der Wortwahl und der
Exaktheit der poetischen Sprachfindung für ein Narrativ vor, denn es ist nicht
einerlei, ob man einen Mord anspricht und das Wort Körper oder Leichnam wählt,
ob man Anstand oder Scham als Beweggrund einer Bitte ausmacht, Zorn oder
Erschöpfung in sich wahrnimmt.
Deborah D.E.E.P Mouton wurde 2017 als erste Afroamerikanerin
Poet Laureate ihrer Heimatstadt Houston, jener Stadt, in der George Floyd
(1973-2020) aufwuchs und in deren Nähe er begraben liegt. Er kam in Minneapolis
zu Tode, weil ein weißer Polizist ihn auf dem Boden fixierte, ihm sein ganzes
Gewicht in den Nacken stemmte, während Floyd minutenlang wiederholte: „I can’t
breathe!“, bis er das Bewusstsein verlor und starb. Dies geschah am 25.5.2020,
knapp ein Jahr nachdem Moutons Debut Newsworthy
in Amerika erschienen war. Hätte Mouton ein Gedicht zu seinem Tod in ihren Band
aufgenommen, wäre dieser erst noch in Vorbereitung gewesen? Gut möglich, denn
sie hat Eric Garner (1970-2014), der auf dieselbe Art starb, ihr Gedicht „Der
Wolf kommt“ gewidmet. Die Umstände von Floyds Tod jedenfalls waren vielen
Medien berichtenswert, weil die öffentliche Empörung groß genug war. Die
Vorkommnisse konnten nicht, wie in anderen Fällen, vertuscht oder manipuliert,
dem Toten nicht die Schuld aufgeladen werden. Denn sie waren dokumentiert durch
Menschen, die ihre Handys zückten und die Gewalt der Polizisten auf Videos
festhielten.
Newsworthy/Berichtenswert
besteht aus zwei Teilen, die von Mouton überzeugend inein-ander verwoben wurden.
Da sind zum einen Texte, die als Stelen an den gewaltsamen Tod von
Afroamerikaner*innen erinnern. Sie wurden Opfer von Menschenverachtung,
Polizeigewalt und rassistischen Übergriffen, etwa James Byrd (1949-1998), der
durch weiße Suprematisten gefoltert und gelyncht wurde, was Mouton in ihrem
Gedicht „Bird“ verdichtete. In „Freak Show Station“ wiederum thematisiert sie
Sensationsgier und die Schattenseiten der Handymanie – der Tod von Oscar Grant
(1986-2009) durch einen Polizisten, der den unbewaffneten, auf dem Boden
fixierten Mann in einer Bahnstation durch einen Schuss in den Rücken tötete,
wurde von zahlreichen Reisenden „aus vielen Blickwinkeln gefilmt“, seine
„Handschellen-Himmelfahrt“ in den sozialen Netzwerken geteilt und „mehr als
fünf Millionen Mal goutiert“. Das Gedicht ist dreigeteilt. Mittig schreit die
Stimme eines Jahrmarktrufers, der zur spannendsten Show der Stadt einlädt, die
zeigen wird, „[w]ie ein Mann zergeht“, weil manchmal „extreme Gewalt der
einzige Weg“ sei. Links davon wird die Qualität der Videos und ihre Aufnahme
beim Publikum resümiert, etwa die sechsstelligen Views auf YouTube, rechts
folgen wir einer Zeugin, die nicht fassen kann, was gerade vor ihren Augen
geschieht.
Vorangestellt ist all diesen Gedichten eine Meilenzahl, die
die Entfernung zur Dichterin angibt und verdeutlicht, dass Rassismus keine
Angelegenheit eines einzelnen Bundesstaates, sondern in ganz Amerika verbreitet
ist. Moutons Gedichte zeigen auf, benennen und beziehen Stellung, weisen zudem
auf Hashtag-Initiativen wie #Saytheirnames hin, mit denen Opfern von
Polizeiübergriffen und rassistischer Gewalt in der Öffentlichkeit Namen und
Gesicht gegeben wird, oder erinnern mit dem kurzen Vers „Hell you talmbout“
(eine Kurzform der Frage: What the hell are you talking about?) einen
Protestsong von Janelle Monáe, der zur Hymne der BlackLivesMatter-Bewegung
wurde.
Diese „Stelen“gedichte werden ergänzt durch Texte, deren
Titel meist mit der Überschrift „Als wir ...“ beginnen und begreiflich machen,
wie es ist, als Afroamerikaner*in in den USA zu leben. Hier spricht Amandla und
es könnte das Pseudonym der Lyrikerin sein, die eigene Erfahrungen in Verse
kleidet, doch diese Interpretation greift zu kurz. Es sind Erlebnisse und
Einsichten von People of Colour, alltägliche Widerfahrungen von Mädchen,
Töchtern und Schwestern, von Frauen, Geliebten, Gattinnen und Müttern, denen
Mouton Vers und Stimme gibt. Im ersten Gedicht des Bandes lernt die Fünfjährige
von ihrem vier Jahre älteren Bruder, dass harmlose News nicht berichtens-wert
seien. Wichtig sei nur, dass eine „Nachricht zündet“. Schon für Kinder gibt es
keine unschuldige Selbstvergessenheit, weil sich unter die Freude beim
Ballspiel oder beim Tempelhüpfen – das bezeichnenderweise auch als
„Himmel-und-Hölle-Spiel“ bekannt ist – der bedrohliche Sound von Sirenen oder
Blaulicht mischen und sie früh unliebsame Begegnungen mit Polizisten haben, als
seien sie bloß
eine abgekreidete Zahlauf die mantreten muss

Mouton erzählt von Willkür bei Anhaltungen durch die
Polizei, Geringschätzung, falschen Anschuldigungen, Verwechslungen und dass nie
zähle, wer man wirklich ist, sobald ein Polizist jemanden für einen gesuchten
Verbrecher hält, der sich zwar in „Aussehen, Anschrift und Alter“
unterscheidet, aber einen irgendwie ähnlichen Namen trägt. Gefährlich ist die
Dämmerung, sind Dunkelheit und Nacht, gefährdet sind überwiegend Buben und
Männer, was Eltern stoßseufzen lässt:
Zum Glück haben wirein Mädchen
obwohl Frauen ebenfalls bedroht werden und zu Tode kommen
(etwa Sandra Bland, zu der Mouton mehrere Gedichte in ihr Buch aufnahm). Früh
wissen Afroamerikaner*innen um „die Fessel der Herkunft“, spüren Unbehagen,
wenn ein Polizist sich nähert, erfahren sich als Freiwild für sexuelle
Nachstellungen oder fühlen „den Angstgeschmack nach sechs“, wenn man als
Autofahrer*in angehalten wird, „[d]as Polizistengesicht eine rote Wut“, die
jetzt und jetzt und jetzt gleich wieder Befugnisse überschreiten wird ... man
weiß nie, ob man unbeschadet davonkommen wird.
Übersetzt wurden die Gedichte von Maria Meinel. In ihrem
exzellenten Nachwort erzählt sie von der ersten Begegnung mit der Dichterin
2018 und deren eindrücklicher Bühnenpräsenz – was sich in etlichen
YouTube-Videos gut nachvollziehen lässt - sowie von ihrer Begeisterung für
Moutons Texte gegen das Vergessen und Totschweigen. Meinel gibt Einblicke in
die Schwierigkeiten mancher Nachdichtung, für die sie sich mit Ulf Stolterfoht
austauschte, etwa in einem „komplexen Schälprozess“ Moutons Neologismen
nachzuspüren und eine Entsprechung im Deutschen zu kreiern, die
„Verbalakrobatik“ der spoken-word-erprobten Dichterin, die rhythmische Dichte
ihrer Texte nachzuempfinden und Motivketten oder Homophonien auch in der
Übertragung gerecht zu werden. Ein Anliegen, das geglückt, ein Buch, das
berichtenswert ist!