Debora Vogel: Die Geometrie des Verzichts
Jan Kuhlbrodt
Zu Debora Vogel: Die Geometrie des Verzichts
Irgendwann im Frühsommer bekam ich ein Buch von Debora Vogel, die ich nicht kannte, bis ich ihren Namen in der Verlagsankündigung des Arco Verlags las. Sie wurde 1900 in Galizien geboren, und im August 1942 wurde sie mit ihrem Mann, dem Architekten Szulim Barenblüth, ihrer Mutter und ihrem fünfjährigen Sohn Aszker im Lemberger Ghetto ermordet.
Beim ersten Durchblättern des Buches hatte ich das gleiche Gefühl der Euphorie wie damals, als ich vor ca. 30 Jahren zum ersten Mal einen Band von Bruno Schulz aufschlug. Wenn Konservativismus Bewahren heißt, dann will ich in einem bestimmten Sinn konservativ sein: es geht darum Alternativen zu bewahren, die vom gnadenlosen Gang der Geschichte verschüttet werden.
Ich bin mir fast sicher, dass dieses Buch einen der drei Hotlistpreise der unabhängigen Verlage bekommen wird, weil es einen Preis verdient hat. Und nicht nur einen der unabhängigen Verlage, sondern darüber hinaus einige andere. Vielleicht sogar einen Preis für philosophische Ästhetik, und nicht nur, weil es auch kühne theoretische Texte enthält und zeitgenössische Auseinandersetzungen, die sich kaum heutiger lesen können.
Debora Vogel legte in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Gedichte in einer kühlen Konstruktion vor, inspiriert von den Bewegungen des Kubismus und der neuen Sachlichkeit, in Korrespondenz und Auseinandersetzung zu Malern und Malerinnen ihrer Zeit, und nicht zuletzt auch in Auseinandersetzung mit Texten Brechts.
Zum Beispiel finden sich im Band eine Reihe von Balladen von Debora Vogel. Hin und wieder nehmen sie direkt Bezug auf Brechts Dreigroschenoper (Und wozu gerade ein Schiff mit acht Segeln). Aber was bei Brecht verklausuliert daherkommt, wahrscheinlich traute er seinem ökonomischen Verständnis nicht,) bringt Vogel auf direkte Weise. Alles Verklärende fällt weg, aber auch die von Brecht vorgeschützte Raubeinigkeit, die mir in der Postpubertät so imponierte. Die ästhetischen Qualitäten ökonomischen Denkens werden bei Vogel sichtbar. Und es ist nicht Affirmation, die in ihrer Ästhetik liegt. Im Gegenteil. Aber eben auch kein Fundamentalismus. Und letztlich ist sie klarer als Brecht, analytischer.
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Man konnte nicht glauben, daß das Geld
angehäuft brach liegen kann
wie Krumen fetter Erde.
In seinem Essay Wie man aus Wörtern eine Welt macht setzt William H. Gass eine Analogie von einfachen geometrischen Formen, die sich aus sich heraus durch Kombination zu einem komplexen Gebilde entwickeln und zu Literatur. Der Text ist eben jenes komplexe Gebilde, dem man die Grundbausteine nicht mehr ansieht, der aber in seiner Komplexität dem, was wir als Welt zu nennen gewohnt sind, enorm nahe kommt. Dem ist insofern zuzustimmen, weil es auf eine bestimmte Art von Literatur zutrifft. Jene nämlich, die sich in einem erweiterten Begriff als realistisch versteht, in deren Oberfläche letztlich die Bauelemente verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden, und die einen gewissen analytischen Aufwand erfordern, um ihre konstruktive Grundstruktur jenseits des Narrativen wieder herzustellen.
Wenn es aber im Gegensatz dazu einen Kubismus in der Literatur geben kann, dann verfährt er gegenteilig, er lässt gerade jene Struktur hervortreten, die im konventionellen Text zum Verschwinden gebracht werden soll.
Einem konventionellem Leser muss das spröde erscheinen, wie einen konventionellen Kunstbetrachter das Schwarze Quadrat auch heute noch, über hundert Jahre nach der ersten Ausstellung in Petersburg, zuweilen ratlos zurücklässt. Aber Schönheit erschließt sich im Kontext, und da, wo uns etwas als unmittelbar schön erscheint, haben wir den Kontext gewissermaßen internalisiert.
Diese Internalisierung des Kontextes funktioniert auch in einer anderen Richtung, und was mir beim Lesen von Vogels Gedichten zunächst als spröde vorkam, schlug um in die Erfahrung einer spröden Schönheit. Und zwar genau auf Seite 53 bei der Lektüre des Gedichtes Graue Häuser.
Graue Häusern
Ein graues Haus
Das zweite Graue Haus
Ein drittes und viertes graues Haus
Gehen gemeinsam.
Einen Tag lang. Einen zweiten Tag lang.
7 Wochentage lang.
Gehen 20 oder 30 Meter weit.
12 Stunden lang
Am ersten Tag. Am zweiten. Am siebten.
Das Licht geht an. Im ersten Haus. Im zweiten.
Das Licht geht aus. Im ersten Haus. Im zweiten.
7 Uhr abends. 10 Uhr abends.
Am zweiten Tag
gehen gemeinsam 20 Meter weit:
zwei drei vier graue Häuser.
Die Texte wurden von Anna Maja Misiak aus dem Jiddischen und Polnischen übersetzt, und der Band enthält die jiddischen Texte in lateinischer Transkription.
Debora Vogel: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe. Hrsg. und übersetzt von Anna Maja Misiak. Wuppertal (Arco Verlag) 2015. 680 Seiten. 32,00 Euro.