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David M. Halperin: Was ist schwule Kultur?

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Stefan Hölscher

David M. Halperin: Was ist schwule Kultur? Übersetzt von Joachim Bartholomae. Berlin (Salzgeber Buchverlage) 2021. 96 Seiten. 16,00 Euro.

Schwulsein als Urgrund der Kultur


Zwei Dinge haben mich auf David M. Halperins Buch „Was ist schwule Kultur?“ neugierig gemacht. Zum einen die Frage, wie Halperin, emeritierter Professor für Sexualgeschichte, Sexualwissenschaft und Frauenstudien, etwas so Schillerndes und Facettenreiches wie „schwule Kultur“ zu fassen versucht, und zum anderen die Neugier auf ein Buch, das entgegen der heutigen Tendenz, lieber von Begriffen wie LGBTIQA+,  Queerness oder Pansexualität zu sprechen, sich das Wort „schwul“ ganz ungeniert auf die Fahnen schreibt.

Wie die Lesenden im Vorwort zur von Joachim Bartholomae übersetzten deutschen Ausgabe erfahren dürfen, ist das Bändchen „nur die abschließende Zusammenfassung…, die eine eigenständige, in sich abgeschlossene Argumentation darstellt“ und am Ende der 550 Seiten umfassenden Originalausgabe steht, die sich allerdings, wie es im Vorwort heißt, zu einem Großteil „der genauen Analyse einer einzigen Szene eines Hollywoodfilms“ widmet, nämlich einer Szene des Films „Mildred Pierce“ aus dem Jahre 1945. Für die starke Komprimierung durch die gezielte Selektion des gewählten Textausschnitts scheint es also gute Gründe gegeben zu haben, insbesondere auch, wenn man sich fragt, wie viele Lesende wohl ein Buch über schwule Kultur gefunden hätte, das sich über Hunderte von Seiten einem hierzulande kaum bekannten Film widmet.

Um es gleich vorwegzunehmen: die Lektüre hat mich mit einem zwiegespaltenen Eindruck hinterlassen. Die beiden ersten Kapitel des Buches, die ungefähr die Hälfte des Umfangs ausmachen, haben in mir vor allem Erleichterung darüber ausgelöst, dass ich nicht noch Hunderte weiterer Seiten dieser Art vor mir habe. Das dritte Kapitel, und damit den zweiten Teil des Buches, fand ich deutlich besser. Doch der Reihe nach.

Eine ganz gute Zusammenfassung der Kernthese, um die es Halperin geht, findet sich auf den Seiten 67/68:     

Dennoch haben die schwule Emanzipation und in letzter Zeit die schwule Bürgerrechtsbewegung die gesell-schaftliche und ideologische Dominanz der Hetero-sexualität nicht beseitigt, auch wenn sie diese Vorherr-schaft ein wenig geschwächt und eingeschränkt haben. Stattdessen scheint das genaue Gegenteil stattzufinden. Um sich in die Gesamtgesellschaft zu integrieren und ihre grundlegende Normalität zu demonstrieren, über-nehmen Homosexuelle die heterosexuelle Lebensweise, einschließlich der heterosexuellen Normen. Damit ak-zeptieren sie die Rahmenbedingungen, in der sich die heterosexuelle Vorherrschaft artikuliert, und tragen zu ihrer Stärkung bei.

Halperins Diagnose ist also: eine Assimilation nicht-heterosexueller Menschen und ihrer Kultur in das Geflecht heterosexueller Normen und Lebensweisen. Und diese Diagnose wird von Halperin noch einmal weiter pointiert:

Bloße Normalität scheint assimilationswillige Schwule nicht mehr zu befriedigen. Normalität ist nicht mehr normal genug, um das Selbstwertgefühl schwuler Männer zu sichern. Wir werden Zeugen der Geburt eines neuen und leidenschaftlichen Kults schwuler Mittelmäßigkeit. Offenbar in dem Bemühen, heterosexuelle Menschen im Normalitätswett-bewerb zu übertreffen und dem nachklingenden Stigma zu entkommen, haben Schwule in letzter Zeit begonnen, sich mit ihrer Dumpfheit, Gewöhnlichkeit, Durchschnittlichkeit zu brüsten. Sie verweisen mit deutlicher Aggressivität darauf, wie langweilig sie sind, wie konventionell, wie vollkommen verwechselbar mit jedem anderen.

Mehr noch als die, wie ich finde, recht krude Pauschalisierung dieser These und damit deren Inhalt, hat mich im ersten Teil des Buches die logische Qualität der Argumentation gestört: die ist nämlich einerseits völlig frei von empirischen Belegen, die über das willkürliche Herausgreifen von Einzelbeispielen und subjektiven Wahrnehmungen hinausgehen, und sie ist argumentativ an vielen Stellen, ich kann es leider nicht anders sagen, einfach nur schlampig – so wie etwa hier:

Man traktiert uns unablässig mit Berichten über «den neuen schwulen Teenager», die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Schwulenbewegung, die Generationenkonflikte, die wechselnden Moden des schwulen Lebens, das Verschwinden der Schwulenbewegung, von Tanzpartys, von schwulem Sex und schwuler Kultur. Sie fühlen sich wohl mit ihrer Sexualität. Sie fühlen sich mehr oder weniger akzeptiert, wohin sie auch kommen. Aber warum bringen sie sich dann immer noch um, wenn sie geoutet werden?

Was bitte soll es hier heißen, dass „sie sich umbringen“? Von wem spricht Halperin hier: von allen schwulen Teenagern, von all denen, die behaupten, sich wohlzufühlen, oder nur von einem Teil von ihnen, und falls letzteres, was macht diesen Teil aus und wie groß ist er zahlenmäßig? Wie zahlreiche empirische Studien deutlich belegen, ist die Rate von psychischen Krankheiten und Suiziden bei nicht-heterosexuellen jungen Menschen gerade dort, wo eine Akzeptanz für nicht-heterosexuelle Lebensformen besteht, signifikant geringer, als dort, wo solche Lebensformen abgelehnt oder gar kriminalisiert werden. Doch mit derlei Unterschieden hält Halperin sich nicht auf, wenn er seine knalligen Thesen verkündet. Und knallig werden diese Thesen oft dadurch, dass sie in geradezu extremer Weise pauschalisieren und polarisieren:

Viele Schwule heutzutage wirken entschlossen, die abgedroschensten und rückständigsten Werte der heteronormativen Kultur nachzuahmen und zu reproduzieren: Familie, Religion, Patriotismus, normative Geschlechtsrollen – die altehrwürdige Trinität von Kinder, Küche, Kirche. Darüber hinaus haben sie die heterosexuelle Ethik erotischer Verarmung übernommen, die die Vorteile eines Verzichts auf sexuellen Genuss propagiert. Diese Ethik postuliert, je weniger Sex man habe, desto bedeutungsvoller werde er sein, und das wichtigste Ziel des Sexuallebens solle nicht Genuss, sondern Bedeutung sein, Bedeutung zu Lasten des Genusses, oder gar unter völligem Verzicht auf Genuss. Dies ist die Ethik, gegen die die schwule Emanzipationsbewegung einst einen Kampf von welthistorischer Bedeutung geführt hat.

Abgesehen von diversen Fragen, die man einer solchen Argumentation stellen könnte, wie etwa der, was „eigentlich viele Schwule“ heißen soll, oder ob der „Verzicht auf Genuss“ einer heterosexuellen Ethik automatisch inhärent sein soll, wird hier ein Bild gezeichnet, dass Dinge wie Familie, Religion oder Patriotismus von vornherein und kategorisch verfemt – egal, wie diese Dinge gelebt werden. An solchen Stellen könnte man fast vermuten, dass derartige Thesen die Rache für Behauptungen des Kalibers sind, Homosexualität oder gar Transsexualität seien per se widernatürlich und verabscheuungswürdig. Die prinzipielle Abwertung und Verteufelung anderer Lebensformen hilft gemeinhin weder in die eine noch in die andere Richtung. So giftspritzend polarisierend zu argumentieren (oder soll das einfach witzig sein?), finde ich nicht nur unnötig, sondern dumm.

Zu Beginn des Vorworts zur deutschen Ausgabe heißt es:

Wer über Kultur schreiben will, muss über eine Kultur schreiben.
Kultur existiert nicht abstrakt. Kultur existiert nur in bestimmten historischen und sozialen Formen.  

Entgegen diesem Diktum fand ich den ersten Teil des Buches ausgesucht abstrakt, diffus argumentierend und indifferent gegenüber der Vielfalt „historischer und sozialer Formen“. Der zweite Teil des Buches, der das Kapitel „Für immer queer“ umfasst, wird hier deutlich konkreter und griffiger. In diesem Kapitel beschreibt Halperin die Bedingungen, unter denen schwule Kultur sich im 20. Jahrhundert besonders herausgebildet hat:

Die Konzentration einer großen Zahl schwuler Menschen in bestimmten Stadtvierteln hatte entscheidende politische, ökonomische und kulturelle Folgen. Sie schuf die Machtgrundlage für die politische Schwulenbewegung. Sie ermöglichte eine starke kommerzielle Infrastruktur, die nicht nur aus Kneipen, Saunen und anderen explizit sexuellen Einrichtungen bestand, sondern außerdem eine regionale Szene-Presse und andere Kommunikationsformen sowie Buchläden und Cafés umfasste. Sie versammelte ein Massenpublikum, das die unverzichtbare Voraussetzung für die Entstehung einer blühenden kulturellen Szene und ein dauerhaftes politisches Ferment darstellt. Und schließlich schuf sie schwule Wohnviertel, die von der Kontrolle der Heterosexuellen befreit waren und in denen neue Formen gemeinsamer Reflexion und Bewusstwerdung, kultureller Blüte und Selbstbestimmung entstehen konnten. Kurzum, die Schwulengettos brachten neue Lebensformen hervor.

Auch wenn Halperins Diagnose sich primär auf die USA bezieht, so ist doch vieles auf die Verhältnisse in Deutschland und Westeuropa übertragbar. Vor allem der Hauptpunkt, dass die Entstehung von Stadtvierteln mit einem hohen Anteil nicht-heterosexueller Menschen, also der Faktor der physischen Nähe von Queers im Alltag, eine entscheidende Bedingung für Kultur, Identität und Emanzipation queerer Menschen war. Diese Entwicklung hat aber einige Zeit später eine Umkehr erfahren:  

So kam es dazu, dass durch das unheilvolle Zusammentreffen von Aids-Epidemie und einem plötzlichen Anstieg von Stadtplanungsmaßnahmen, Grundstücksverwertungen, Gentrifi-zierung und einem dementsprechenden Anstieg der Grundstückspreise in den 1980ern die Schwulengettos zerstört wurden, die in den 1960ern, 1970ern und frühen 1980ern die Zentren des schwulen Lebens gewesen waren. Diese Zerstörung hatte weitreichende Konsequenzen für die schwulen Gemeinschaften, besonders für radikale sexuelle Subkulturen. Letztendlich wirkte sie sich auf das Leben aller schwulen Menschen aus.

Das Hinzukommen des Internets, mit der Möglichkeit, statt in Szeneläden vom eigenen Wohnzimmer aus nach passenden Partner*innen zu suchen, tat dann ein Übriges für den Bedeutungsschwund der gemeinsamen Orte schwuler Kultur. In Verbindung mit Halperins Assimilationsthese scheint sich damit folgendes Fazit nahezulegen:

Schwule Kultur ist ein Überbleibsel vergangener Zeiten. Sie ist archaisch, obsolet. Schwule Kultur hat keine Zukunft. (S. 66)
Heteronormativität kann deshalb das Ende des Monopols der Heterosexualität überleben. So, wie man an der schwulen Kultur teilnehmen kann, ohne schwul zu sein, kann man an der Heteronormativität teilhaben, ohne heterosexuell zu sein. (S. 78)
   
Gleichzeitig steht man als Mensch, der nicht-heterosexuell oder nicht cis-gender ist, immer in grundsätzlicher Spannung zu einer heterosexuell geprägten Welt. Und diese Spannung löst, so betont Halperin, automatisch Fragen und Infragestellungen von Prämissen heterosexueller Normen und Lebensweisen aus. Es entsteht ein reflexiver, oft auch künstlerisch kreativer Abstand zu dem, was gemeinhin für „Natur“ gehalten wird. Diese „Abweichung“ aber, so folgert Halperin in Anschluss an Susan Sonntag, ist „der eigentliche Grund der Kultur – ihr Ursprung und ihre Definition. Nur das Verlassen des Gegebenen kann Kultur und das Ausmaß an Abstand und unbeteiligter Reflexion hervorbringen, wie kulturelle Aktivitäten sie benötigen.“ Von diesem Gedanken ist es nicht mehr weit zu Halperins These: „In gewisser Hinsicht ist Homosexualität Kultur. Deshalb braucht uns die Gesellschaft.“ Was das für die Zukunft heißen könnte, insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Assimilationen heterosexueller und queerer Kultur, bleibt bei Halperin allerdings offen.


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