Direkt zum Seiteninhalt

Das Rauschen im Ohr Snowdens

Diskurs/Kommentare > Diskurse


Markus Hallinger

Das Rauschen im Ohr Snowdens

„... Es genügt, lediglich bei irgendwem unter Verdacht zu geraten, und sei es nur aufgrund eines Telefonanrufs beim Falschen oder durch den Falschen. Dann können sie mit Hilfe dieses Systems in die Vergangenheit zurückgehen und jede Entscheidung, die du jemals getroffen hast, überprüfen, jeden Freund, mit dem du je irgendetwas erörtert hast. Und dich auf dieser Grundlage angreifen, um aus einem harmlosen Alltagsleben Verdachtsmomente abzuleiten, und jedermann als Übeltäter ankreiden.“

Edward Snowden im Guardian


Es ist von Algorithmen die Rede, die die unendlichen Datenmengen (wie Abdrücke unserer Seele) sammeln, kombinieren und daraus ein Muster unseres Lebens entwerfen, wie es ist und morgen sein wird. Mich erschreckt es, dass Geheimdienste, Suchmaschinen, Telekommunikationsgesellschaften alles von mir wissen können und wenn sie meinen, es wäre zu ihrem Nutzen, gegen mich verwenden können. Wenn ich mich ausziehen möchte, um nackt über den Marktplatz zu rennen, möchte ich das tun können, aber ich möchte der sein, der das entscheidet und nicht irgendwann getrieben werden. Es ist die schöne neue Welt, ein Leben ohne Geheimnisse, in der sich zu jedem Zeitpunkt mit beinahe 100prozentiger Sicherheit das Verhalten, Denken, Fühlen eines jeden Einzelnen voraussagen lässt. Nicht nur was ich morgen bei Aldi einkaufen werde, weiß dieser Algorithmus, nein, es geht soweit, dass man meint, bald eine bevorstehende Straftat im Voraus identifizieren zu können. (Wie lange, frage ich mich da, laufe ich noch frei herum? Ich neige dem Anarchismus zu, womöglich dem Terrorismus, aber das weiß ich nicht so genau, könnte mir aber ein Algorithmus sicher sagen ...).

Ist das Science Fiction? Hysterische Denkweise eines überspannten Gehirns? Sicher ist es ein faszinierender Gedanke: die Tat des Täters zu vereiteln, noch bevor sie begangen wurde! Wissenschaftler arbeiten bereits an solchen Programmen, sie existieren und finden ihre Anwendung in der amerikanischen Terrorismusbekämpfung – oder der Partnervermittlung.

Was hat das mit Gedichten und Poesie zu tun? Es ist die Frage, ob in dieser drohenden, und, womöglich bald, völlig entblößten Welt Poesie und Gedicht überhaupt noch einen Platz finden können. Es scheint mir, als wäre es für unser praktisches, pragmatisches Denken viel spannender zu wissen, was mein Mitmensch tatsächlich treibt, wo er einkauft, welche Marken er bevorzugt, ob er der sparsame Typ ist oder sich ab und zu was gönnt, welche Art Nachrichten er liest, worüber er sich mit seinem besten Freund in Emails austauscht usw ... Würde das nicht unser Leben abbilden, so wie es ist, und könnte man nicht leicht aus diesen Fakten sein psychisches Profil auswerten und entwerfen, und wir wüssten endlich, wie der Mitmensch tickt. Also: Was wissen Gedichte mehr, was können Gedichte besser herausfinden über unser Leben als Algorithmen?

Beide wollen Wirklichkeit abbilden. Die Dichtkunst sammelt (auf ihre Art) wie das Computerzentrum, - zwar weniger auf dem Gebiet der Daten und Fakten, als vielmehr die Möglichkeiten, die Sprache und Sprachgebrauch bieten, aber letztlich tut sie dasselbe, Sammeln, Zusammenstellen, Kombinieren, Umstellen, Herauslöschen usw...., so dass das Wortgebilde dann irgendwie passt und wie ein Gedicht aussieht. Dann sehen viele Gedichte genau so aus, in Form, aber wirlichkeitsfern, wenn ich sie mit dem Muster vergleiche, das der Algorithmus entwirft und das aus unendlich vielen So So So besteht.

Auf diesem Gebiet scheint die Maschine, der Computer, dem Menschen haushoch überlegen. (Wer meint, Algorithmen seien endlich, der wird sich getäuscht sehen, genauso wie sich diejenigen getäuscht sahen, die vor 20 Jahren meinten, ein Computer könne, bei der unbegrenzten Anzahl der Möglichkeiten, niemals so gut Schach spielen wie ein Mensch). Lässt man die Frage zu, was der Mensch besser als der Computer kann, ist die Antwort frustrierend. Nichts.

Aber die Frage ist hier falsch gestellt worden, besser gesagt, diese Frage dürfte erst gar nicht gestellt werden, weil, so banal es ist, Computer und Mensch nicht vergleichbar sind. Der Computer kann seine „Denkbahnen“ nicht verlassen, und wenn er sie verlässt, ist es nur wiederum ein Algorithmus, der ihn dazu veranlasst. Selbst das Willkürliche, der Zufall, wird geplant und ist einprogrammiert. Der Computer würfelt bereits.

Viele Gedichte und poetische Texte sind nach einer Masche gebaut und spielen so der Computerwelt in die Hände, indem sie sich überflüssig machen; das Computerprogramm, wenn es sich dazu äußern könnte, würde sagen: Seht her, das kann ich besser, Zeitungsschnipsel aufreihen, Wortgebilde entwerfen zu einem visuellen Erlebnisraum, aus Gedichtanfängen aller Jahrhunderte neue Gedichte generieren. (Und könnte dann darüber schreiben lassen: am Anfang war das Wort, am Ende die Maschine ...) usw. Das alles kann der Computer viel facettenreicher, in unendlich vielen Variationen, von denen wir nur träumen – sobald es sich um eine Masche handelt. Ich meine mit Masche nicht nur die Form, das Versmaß, das ein Computer sicher leicht nachahmen könnte, sondern auch eine Denkmasche, eine Schreib- und Sprechtechnik, die man sich irgendwann zu eigen gemacht hat und die dann immer wieder zur Anwendung kommt. Denkmuster. Algorithmen im Gehirn. Man geht sich auf den eigenen Leim.

Das Gedicht muss den Gegenbeweis antreten, dass es nicht von einem Computer entworfen sein könnte, und mehr sagen über die Wirklichkeit als der digitale Psychotest. Hier wird es schwierig, weil wir als Wirklichkeit die sozialen, politischen, wirtschaftlichen Gegebenheiten betrachten, der Rest ist eben Psychologie. Die Zusatzfrage, wenn ich in Quizform weiterdenken will, kann aber womöglich nur die Poesie stellen. (Ja, nicht die Philosophie, die Philosophie, die verbrauchteste und kitschigste aller Wissenschaften). Was macht das mit uns? Mit unserem Seelenhaushalt – sofern wir noch an die Seele glauben, - und, fällt es auf, hier steht das Wort „Haushalt“ im Zusammenhang mit Seele. Und, wenn man hier weiterdenkt, tut sich womöglich ein Reservat auf, ein Gehege für einige unverbesserliche Spinner, die an so etwas wie Seele oder Herz oder auch Begriffe glauben. Zeigt her eure Wunden! Seht her ein Mensch! - und nicht nur ein aus Fakten zusammengewürfeltes Puzzle.

Ich bemerke, ich beginne hier auf einer religiösen Schiene abzugleiten, was ich nicht wollte, Gedichte sind Aufklärung, verdammt nochmal, Aufklärung! Wie funktioniert unser Denken in Worten und Begriffen, wie sind sie belegt und bewegt, und gleichzeitig, wie waren sie belegt, welche Zusammenhänge lassen sich finden, und wie haben sich diese verändert? (Man denke nur einfach an - Tisch und Brot – was heute nur noch in der provinziellen guten Stube stehen mag, eingerichtet mit Gegenständen aus dem vorletzten Jahrhundert.) Und das alles muss beispielhaft sein, am Beispiel (des Autors), sonst wird es unglaubwürdig.

Dazu muss der Autor die eigenen Denkbahnen verlassen können und immer wieder ganz von vorne anfangen. Und am Ende kann er nur noch hoffen, dass das Ergebnis Widerhall erzeugt.


Wer dies allerdings tut, sich außerhalb bekannter Bahnen bewegt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, er sei unverständlich. Und hier wird es wieder frustrierend: Die Arbeit, die es fordert, in einen Text einzudringen, macht man sich nicht, vor allem, weil man oft nichts findet, wo man einsteigen könnte, an keiner Ecke gepackt wird. Das zeigt auf die Schwäche der Texte oder die Schwäche des Lesers. Es deutet für mich auf einen Mangel an Phantasie, an Denkvermögen, weil das Wissen um einen Gegenstand, das Nachdenken, Erinnern, das Gefühl, da war doch was, da ging doch was vor, uns immer mehr abhandenkommt. Benötigen wir das Wissen um einen Sachverhalt, finden wir es im World Wide Web, und wenn es sich um etwas Persönliches handelt, (man könnte die NSA fragen,) greifen wir auf die Cloud zu oder das digitale Fotoalbum. Das ist Alzheimer, nur genau andersherum, das Langzeitgedächnis geht verloren. Was bleibet aber ...


Das rauschende Ohr Edward Snowdens hinterlassen in einer Schatulle

Was waren wir hysterisch bewegt.
In den Gehörgängen rauschte das Flügelschlagen
der Tauben auf den Dächern, Spatzen, allerlei Vögel, Gezwitscher.
Papierene Schwäne taumelten wie Faltboote. Eine Art
Seelenwanderung über den Orkus, inklusive der stoppeligen Felder,
der Siemenswerke und der Jugendstilvilla als Bordell.
So oder so sei die Sprache, heißt es: ein Brief. (Wer sendet?)

Alle Helden sind Whistleblower.

Zurück zum Seiteninhalt