Das Finale 2012
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Hans-Karl Fischer
DAS FINALE am 7.12.12
Zu Beginn der Veranstaltung begrüßte der Vorsitzende des Münchner Literaturbüros, Beppo Rohrhofer, Autoren, Juroren und Gäste:
Zum ersten Mal sollten heuer, im dritten Jahr des Lyrikpreises München, drei statt wie bisher ein Preis vergeben werden. Rohrhofer bedankte sich bei der Landeshauptstadt München, der Gasteig GmbH, der Stadtbibliothek München und der Münchner Bank für die Förderung des Preises. Sodann begrüßte er den Markt-bereichsleiter der Münchner Bank, Thomas Münster, und wies auf die Haidhauser Büchertage hin, die in den nächsten beiden Tagen den Lyrikpreis mit etlichen Veranstaltungen, unter anderem Lesungen der Vorjahressieger, ergänzen sollten. Das Münchner Literaturbüro trage sein Scherflein dazu bei, das kulturelle Leben Münchens zu bereichern.



Links Josef Rohrhofer vom MLB, rechts Thomas Münster von der Münchner Bank
Oben: der Moderator Ulrich Schäfer-Newiger,
unten v.l.n.r.:
Ludwig Steinherr, Bettina Hohoff, Wolfram-Malte Fues,
unten v.l.n.r.:
Ludwig Steinherr, Bettina Hohoff, Wolfram-Malte Fues,
Andreas Heidtmann. (Rolf Grimminger nicht im Bild)

Nach diesen Ausführungen stellte der Moderator Uli Schäfer-Newiger die Mitglieder der Jury vor. Neu dabei waren der Basler Professor für Neuere Deutsche Literatur, Wolfram-Malte Fues, der selber Lyriker ist, sowie der Verleger Andreas Heidtmann aus Leipzig, der mit dem Poetenladen im Internet bekannt geworden ist und in den letzten Jahren einen Buchverlag auf die Beine gestellt hat. Von früheren Veranstaltungen her vertraut waren der Lyriker und Philosophiedozent Ludwig Steinherr, die Herausgeberin der „Neuen Sirene“, Bettina Hohoff, und der Literaturwissenschaftler Rolf Grimminger, der bereits im ersten Jahr des Lyrikpreises München als Juror in Erscheinung getreten war. Per Los wurde die Reihenfolge festgelegt, in der die Autoren lesen sollten.
Als erste las Sina Klein aus Düsseldorf ihre Gedichte mit melodischer und Atmosphäre schaffender Stimme. Rolf Grimminger sagte zunächst, daß die Gedichte Kleins durch die Klangähnlichkeit der in ihnen verwendeten Wörter auf ihn sehr gekonnt gewirkt hätten. Das respektvolle Wort „gekonnt“ blieb auch im folgenden die Vokabel, auf die sich sämtliche Juroren einigen konnten. Das allerdings mit größeren Unterschieden. Während Andreas Heidtmann die Feinheit der in den Assonanzen verborgenen Reime und überhaupt die Musikalität der Sprache rühmte, bemerkte Fues in den Gebilden eine „überschießende Konstruktion, als ob die Technik sich nicht selbst trägt“.
So entstehe ein ausschließlich ästhetischer Eindruck. Daran anschließend machte Bettina Hohoff darauf aufmerksam, daß die Gedichte auch einen Inhalt haben. Doch Ludwig Steinherr hob erneut auf die Gekonntheit ab und sagte, daß sich die Form in Kleins Gedichten vielleicht manchmal zu sehr verselbständige.

Was könnte es an der Gekonntheit zu bemängeln geben? Das Auseinanderklaffen zwischen Gediegenheit und Virtuosität, dem Vorzeigen der handwerklichen Fähigkeiten und der gleichzeitigen Aufforderung, sie zu vergessen.

Jürgen Flenker aus Münster rezitierte seine Gedichte ruhig und gedämpft. „Der himmel war ein butterfaß / voll tran und gelb / ich stak im schmalz / und schmierte daumendick / metaphern auf mein brot.“ Da Ludwig Steinherr vorher wenig zu sagen übrig geblieben war, legte er nun Wert darauf, mit seiner Beurteilung anfangen zu dürfen. Er halte Flenkers Gedichte für sehr stark; die erlebte Realität des Alltags komme in ihnen zum Vorschein. Fues, der sich zu Beginn seiner Kritik als Bösewicht vom Dienst einführte, bemängelte, statt der gewünschten Erlebnistiefe begegne man bei Flenker Versatzstücken. Auch Andreas Heidtmann meinte, dieser Dichter wage noch nichts. Man habe sich in die siebziger Jahre zurückversetzt gefühlt.
Während Bettina Hohoff Flenkers Gedichte wunderbar fand, bemerkte Rolf Grimminger eine Vermischung von Lyrik und Erzählung, die vielleicht an Born und Brinkmann erinnere, Flenkers Poeme jedoch lebendig und anschaulich machten. Vereinzelt seien die Pointen plump.
Mit dem Bild von den daumendicken Metaphern habe Flenker seine eigenen Bilder jedoch gut charakterisiert; sie seien nicht unbedingt schön, aber treffend. Im folgenden entspann sich eine Diskussion, ob Flenkers Gedichte anachronistisch seien oder nicht. Ein Zuhörer meldete sich zu Wort: die Texte seien nicht nur voll von ohnehin obsoleten, sondern zudem von verborgenen Genitivmetaphern. Außerdem werde, wie es dem Stil der siebziger Jahre entspreche, aus dem Erzählfluß willkürlich ein Detail herausgenommen und danach alleine abgehandelt. Jürgen Flenker, der wie jeder Autor unter Schäfer-Newigers Regie einen Schlußsatz sagen konnte, verzichtete darauf.
Danach trug Jörg Neugebauer aus Neu-Ulm sein Langgedicht „Shadow Play“ mit getragener Stimme vor. Die Juroren teilten sich zunächst in Freunde und Feinde des Langgedichts auf. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, so holten die Literaturwissenschaftler unter ihnen aus, habe man geglaubt, man müsse viel Material ins Gedicht packen.
Es sprach für die Kompetenz der Jurorenschaft, daß bei dieser Gelegenheit nicht das Wort „Welthaltigkeit“ fiel, das, ohne zugleich das lyrische Ich und die Art seiner Verschränkung mit der Außenwelt im Gedicht zu beachten, auf den Wunsch oder die Forderung „Mehr Welt!“ hinausläuft. Fues, noch keineswegs müde, den „Bösewicht vom Dienst“ abzugeben, sprach anläßlich von Jörg Neugebauers Gedicht von einem Materialarchiv. Kurze Stellen lyrischer Verdichtung seien an ihm zu loben, würden aber von der Erzählung immer wieder „überwältigt“. Darauf meinte Bettina Hohoff, die gern Langgedichte liest, daß Jörg Neugebauer eine Strophe gegen das Ende von Shadow Play gestrichen habe; ihr sei die erste Fassung jedoch besser vorgekommen.


Verhalten und doch lebendig las Patrick Beck aus Dresden nach der Pause seine „Lyrik ohne Verse“. Unverzagt erklärte Fues zu Beginn der Diskussion, Beck müsse seine Texte auf andere Art lesen. Es handle sich um rhythmische Prosa. Gemeint: unverbrüchlich Prosa, in die sich jedoch der lyrische Rhythmus einschleiche. Außerdem, erklärte Fues, gefiele ihm „das Nichts“ am Ende des ersten Stücks nicht.
Wenn es nach ihm ginge, würden solche Wörter für 50 Jahre aus den Lexika der deutschen Sprache getilgt werden. Hohoff glaubte zu erkennen, daß in einem der knappen Texte ein Satz zu viel stehe.
Sie gab zu verstehen, daß sie diese Texte für noch nicht ganz fertig halte. Sie sagte, ein Lektor könne mehr daraus machen. Ludwig Steinherr dagegen meinte, die Beckschen Prosagedichte seien von unterschiedlicher Güte. Gefallen habe ihm die antike Vorstellung, daß hinter dem Nachthimmel Feuer sei; ein anderes Nachtgedicht sei jedoch „zu sehr Geste“. Darauf erklärte Rolf Grimminger, die Prosastücke Becks seien keineswegs überladen, vielmehr in kurze parataktische Sätze gegliedert. Je einfacher, desto stärker. In den Pointen erkannte er eine Tendenz zur Allegorie. Dieser Erkenntnis schloß sich Andreas Heidtmann an: Er sprach von Gleichnissen und Lebensweisheiten. Der Zusammenklang der Sätze stehe über dem Zusammenklang der Wörter. (Unter Zusammenklang wird man auch Kontraste verstehen können.) Damit war eine Diskussion darüber eröffnet, ob man behaupten könne, Lyrik habe es mit der Beziehung von Wörtern, Prosa dagegen mit der Beziehung von Sätzen zu tun. Dies wurde mit dem Hinweis auf einige Gedichte Goethes verneint, die so sehr von der Beziehung zwischen Sätzen lebten, daß auch sie erst nach und nach als Gedichte kenntlich würden.
Mit voller Stimme las Anne-Marie Kenessey aus Zürich ihre zum großen Teil lautmalerischen Poeme vor. Da die Dramatik der Rezitation nicht unmittelbar aus den Texten hervorging, war diese von durchdachter, aber dennoch erstaun-licher Komik. Je stenogrammartiger oder lautmalerischer, desto emotionaler die Art ihres Vortrags. Das war beeindruckend, denn es wirkte so, als käme das, was aus der Autorin nach außen dringen wollte, nur in Lauten, aber immerhin in Lauten aus ihr heraus. Andreas Heidtmann sagte, die Gedichte seien experimentell, erinnerten jedoch an Pastior oder Kling. Der Zufall bei der Wortfolge sei jedoch hoch und beeinträchtige die „innere Schwingung“.

Bettina Hohoff stimmte dem zu. Professor Rolf Grimminger sagte, Kenessey habe hinreißend gelesen. Professor Fues erläuterte, die Gedichte evozierten eine Veränderung von Regeln. Es handle sich um kalkulierte Gedichte. Allerdings sei Oskar Pastior vor zwanzig Jahren schon weiter gegangen. Und damit erhebe sich die Frage, ob es sich nicht doch um ein Experiment aus zweiter Hand handle. Diesem Verdacht entschieden entgegentretend machte die Autorin von ihrem Recht, nach den Urteilen der Juroren ein letztes Wort zu sprechen, ausführlich Gebrauch. Am Schluß der Apologie ihrer Gedichte bemerkte sie: “Ich habe keine Vorlagen. Die einzige Vorlage, die ich habe, bin ich selbst und das, was ich äußere.“

Angelia-Maria Schwaller aus Fribourg trug ihre Dialektgedichte im Schwyzerdütsch zweisprachig vor. Die Übersetzungen ins Hochdeutsche zuerst zu lesen, somit einer Enträtselung der Gedichte zuvorzukommen, ist Schwallers Erfindung für diesen Vortrag. Dabei entwickelten die Gedichte den schlichten Reiz mittelalterlicher Poesie. Zunächst erkundigte sich Professor Fues bei seiner Lands-frau, in welchem Subdialekt des Höchstalemannischen ihre Gedichte verfaßt worden seien. Die Antwort lautete: Senslerdeutsch. Andreas Heidtmann meinte, die Gedichte seien voller Allgemeinplätze und Klischees; sie seien nicht wirklich durchgearbeitet.
Rolf Grimminger jedoch hatte sowohl die Knappheit der Schwallerschen Wortkunst als auch die Schönheit des schweizerischen Dialekts angerührt. Während Bettina Hohoff dafür hielt, diese Art von Dichtung nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen, und Professor Fues berichtete, es gebe in der Schweiz Wettbewerbe für Dialektdichtung zuhauf, sagte Ludwig Steinherr, daß es in der Tat schwierig sei, die im Dialekt verfaßten Gedichte mit in hochdeutscher Sprache geschriebenen zu vergleichen. Ein wahres Wort. Von „Tagebuchnotaten“, einer archaischen Sprachstufe und der Lokalisierung als Gegenbewegung zur Globalisierung war dann auch noch die Rede.
Nach einer zwanzigminütigen Pause, die sich die Juroren als absolutes Minimum ausbedungen hatten, kamen sie zu einem aufs erste sehr überraschenden Ergebnis: Den dritten Preis überreichte Olaf Eberhard für den Verband der oberbayerischen Bibliotheken an Jörg Neugebauer.

Den zweiten Preis, von unbekannt bleiben wollender privater Hand gestiftet, bekam Jürgen Flenker.

Den ersten Preis, den Thomas Münster von der Münchner Bank aushändigte, Anne-Marie Kenessey.
(Rechts neben dem Marktbereichsleiter der Geschäftsstellenleiter Andreas Wimmer)


Die Juroren beraten sich, v.l.n.r.
Andreas Heidtmann, Ludwig Steinherr,
Rolf Grimminger, Bettina Hohoff,
Wolfram-Malte Fues
Fotos: Hellmuth Lang
Wie ist es zu erklären, daß Sina Klein zwar am ausgiebigsten gelobt wurde, sich aber nach der Konferenz der Hauptjuroren nicht einmal unter den drei Siegern befand? Einmal, weil sie wie jeder Autor an der Wurzel ihrer Kunst angegriffen wurde; zum zweiten, weil ihr ausgezeichneter melodischer Vortrag die an sich schon musikalische Diktion ihrer Texte übertönte. Kunst besteht offenbar auch darin, daß man im Bedarfsfall auf einen Teil seiner Kunst verzichtet.