Danilo Pockrandt: Doppelbesprechung
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Thomas Böhme
Die
knickbeinige Kastanicke & halbierte Schmetterlinge
Bücher sind zum Umblättern geeignet, und jedem Umblättern
folgt ein Staunen. Wann haben Sie zum letzten Mal so ein Buch in den Händen
gehalten? Danilo Pockrandt hat 2023 gleich zwei solcher Wundertüten in Buchform
vorgelegt, und für das eine sogar eigene Zeichnungen geliefert. Dass aus beiden
je ein goldenes oder weißes Lesebändchen herauslugt, gehört zur gediegenen
Ausstattung wie die großzügige Typographie, bei der man die Lupe in ihrem
Futteral lassen kann. Als Meister der skurrilen Einfälle dürfte sich Pockrandt
(Jg. 1981) längst einen Namen gemacht haben, doch unterscheiden sich die
vorliegenden Bände voneinander. Wo im ersten „Das Lepomu und andere
Wunderwesen“ die Fantasie ihre Trapezkünste vorführt, besticht im zweiten
„Daliegen wie eine Falltür“ die Lakonie des Beobachters. Ein Beobachten, das
mitunter ins Ahnen oder ins Spekulieren übergeht und die eigenen
Gedankenlabyrinthe in die Versuchsanordnung einbezieht.
Bleiben wir zunächst beim „Lepomu“. Wie die Frage nach dem Primat von
Ei oder Henne müßig ist, ist es auch die, ob zuerst die Zeichnungen oder Texte
zu den 44 Geschöpfen entstanden sind. Halten wir fest, dass beide einander
bedingen und ergänzen, etwa der „Teeohrenbückling“, der „nicht richtig zuhört“,
weil er – wie die zeichnerische Entsprechung zeigt – ja keine Ohren hat. Bei anderen, wie
dem „Geäderten Nachbliegel“, dessen Angst vor „Appetit auf Frühstückschinken
groß ist“, lässt die nebenstehende Darstellung verschiedene Deutungen zu. Was
wie ein Schal mit Augen (hinten und vorne) aussieht, muss nicht zwangsläufig
einen Fleischfresser anlocken. Alle Wesen aus
Pockrandts „Bestimmungsbuch“ glaubt man schon irgendwo gesehen zu haben, auch
wenn die naturwissenschaftlichen Lehrtafeln unzuverlässig sind. Besser ist es
da, dem unbestechlichen Blick ihres Schöpfers zu vertrauen. „Der Seeschalm“ hat
eine eigene Fortbewegungsart für sich entdeckt, das „Flündern“, und wenn man
seine hauchdünnen Beinchen betrachtet, kommt einem das schon weniger seltsam
vor. Mit dem „Raffspitz“ sollte man sich hingegen nicht anlegen, besonders
wütend wird er, wenn Kinder ihn als „Alienkartoffel“ bezeichnen.
Allen Geschöpfen dieses Anti-Brehms sind auf der unteren Zeile die Abteilregeln und Betonungen hinzugefügt, was z.B. beim dreiäugigen „Huhadduhu“ hilfreich ist. Hu-had-du-hu und nicht anders, wird das Tierchen abgeteilt und betont. So wird man Blatt für Blatt in die Pockrandtsche Schöpfungs-geschichte eingeweiht, die sich zum Glück nicht an einem Adam, einer Eva versucht, denn wir wissen ja, was das für die übrigen Lebewesen an nachteiligen Folgen hatte. Der Hasenverlag Halle, der das Buch herausbrachte, sah das sicher genauso.
Mit der Spezies Homo sapiens befasst sich Pockrandts in der Edition Monhardt Berlin erschienener Nobelband „Daliegen wie eine Falltür“, mit Aphorismen und Kürzestgeschichten, bei denen mitunter der Titel länger ist als die dazugehörige Story. Hier sind „Menschliches, Allzumensch-liches“ eingebunden in die Betrachtung von Natur und Dingwelt, deren vertrackte Vertrautheit einem sprachloses Gelächter oder zustimmendes Stirnrunzeln entlockt. Der Autor entpuppt sich durchaus als Kind seiner Zeit, der am Handy und am Computer tippt und tappt, nämlich im Dunkeln, etwa bei der „Autokorrektur“, die ihm statt „Fischbüchse“ „Fuchsbuchse“ vorschlägt und im Nachsatz hinzufügt, dass er die meisten dieser Miniaturen zuvor als WhatsApp-Nachricht an eine befreundete Malerin schickte.


Eine ganze Tragödie enthält „Letztes Selfie III“, drei Sätze, eine Zeile: „Abgrund. Geröll. Zwei Nasenlöcher, überbelichtet.“, mehr muss man nicht wissen, mehr will man nicht wissen. Nebenbei erfährt man, dass in Filmen auch Fliegen mitspielen, aber nur selten zur Premiere eingeladen werden, oder erhält den kürzesten Kommentar zur „KI“: „Hauptsache, es wird erledigt.“ Wäre Pockrandt Zeitungsredakteur, was könnte er an Papier einsparen! So darf man getrost behaupten, dass Pockrandt Mark Twain richtig verstanden hat, der einmal befragt, wie man schreiben solle, meinte, das sei ganz einfach, man müsse nur alle überflüssigen Wörter weglassen.
Nun am Ende seiner Betrachtung angelangt, stellt der Rezensent erstaunt fest, dass er sich für eine Überschrift entschieden hat, die im ganzen Text nicht vorkommt. Da kann man nichts machen. Leider tauchen auch „Der Quökkel“ oder das „Toilettenhaus am abendlichen Prorastrand“ nicht auf. Sie sollten bedenken, dass ein Kritiker mehr noch als der von ihm gewürdigte oder verrissene Autor vom Weglassen lebt, und wenn Sie die Neugier gar zu sehr plagt, zu den Büchern greifen. Falsch machen können Sie nichts.
Danilo Pockrandt: „Das Lepomu und andere Wunderwesen – Ein Bestimmungsbuch“, mit Zeichnungen des Autors: Halle (Hasenverlag) 2023. 101 Seiten. 25,00 Euro.
Ders. „Daliegen wie eine Falltür“. Berlin (Edition Monhardt) 2023. 140 Seiten. 25,00 Euro.