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Daniela Strigl: Sinn und Sinnlichkeit

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Kristian Kühn

Daniela Strigl: Sinn und Sinnlichkeit. Lesen, verstehen, schwelgen. 22. Münchner Rede zur Poesie. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2021. 32 Seiten. 12,00 Euro.

Rasende Sprache


Daniela Strigl packt die alte Frage nach der Manie in der Lyrik von einer eher handfesten bürgerlichen Seite aus an. Zu Beginn ihrer Münchner Rede zur Poesie am 16. Juli 2021, es war die 22. im Lyrik Kabinett, herausgegeben von Frieder von Ammon und Holger Pils, stellte sie die Frage, obwohl Viele selber Gedichte schreiben, obwohl Andere, die sich mit der Poesie beschäftigen, Germanistik studiert haben, oder vergleichende Literaturwissenschaften, warum ist die Furcht vor Gedichten auch bei ihnen so groß? Obwohl diese Zielgruppen sich mit Unerschrockenheit eigentlich auskennen, woher kommt diese ihre besondere wie auch die allgemeine Furcht vor Gedichten?

Dass sich diese Konzeptfrage irgendwie auch mit der des Amerikaners Ben Lerner deckt, nämlich Warum hassen wir die Lyrik?, darauf geht Strigl zwar nicht ein, dennoch verfolgt sie auf ihre Weise stringent (aber nicht politisch) das Faszinosum Lyrik als ein Plädoyer für den Wagemut, sich an diese Mania, die einzige, die Platon nicht krank, sondern göttlich nennt, heranzutrauen, an diese rastlose Sprache, die Sinnpartikel streut, aber jene, die Deutungen versuchen, ratlos zurücklässt. Als erste Referenz für diese ihre Vorgehensweise wählt Strigl einen Text von Friederike Mayröcker, namens

„habe gerade die Sprache erfunden rasende Sprache“  

Strigl verfolgt dabei nicht eine Entrückung in unkörperliche Sphären, sondern geht über sprachliche Einschreibungen in die Körperlichkeit hin zur Assoziation eines leidenden Antonin Artaud, dem Erfinder des >Theaters der Grausamkeit< und dessen

„aggressiver Rehabilitierung des Körpers, seinem Bekenntnis zum Wahnsinn als dem Stachel des bürgerlichen Lebens und seiner metaphysischen – und zugleich antireligiösen – Praxis des magischen Rituals für eine furchteinflößend extreme Feier des Affekts.“

Mit dieser bürgerlichen Vorsicht beladen, empfindet Strigl den zweiten Teil des Mayröcker-Gedichts als Paukenschlag, denn er beginnt

       Das ist I Liebesbrief!, die Zacken der Berge, die spitzen
        Augen wie Nadeln meiner Natur aufgepinnt, ach! Natur, ge-
       pinnt auf die eigene Körperhaut, ach und wehe! Ich schreie
        krümme mich bringe mich um, das überflutete Auge gefiederte
        Auge, diese Natur oder was!, diese Chiffre Vollmondschein
        du bist ins Zimmer getreten, ich warte auf deine Stimme
        ich schreibe wahnhafte Briefe, die du niemals bekommst,
        …

Wer ist dieses Alter Ego, das energiemagisch, vielleicht mit Sprache, vielleicht halbsprachlich, in den Wahn der Begegnung lockt?

Strigl schlägt einen Verständnisweg vom Rasen der Worte hin zur Rätselbereitschaft, einem Orakel vor:

Man kann dem Diktat des Sinns vermutlich nicht entgehen, aber man kann auf die Ebene der Affekte und in die Sinneswahrnehmungen des Gedichts ausweichen und wiederum auf deren affektive Wirkung setzen. Und man kann, wenn alle Stricke des Sinnkontexts reißen, die Sinnlichkeit der Sprachgestalt selbst in Augenschein nehmen oder zu Gehör bringen, die Erscheinung, den Klang des Ganzen und des einzelnen Wortes.

Und so kommt sie zu Paul Celan zu sprechen, auf dessen „unüberwindlichen Gegensatz zwischen Hermetik und Hermeneutik“ und seiner späten Vorliebe, in Form von Rätseln Lücken zu lassen, zu schweigen und Lösungen zu verweigern.

Auf seine Unverständlichkeit angesprochen, soll er gesagt haben:

        Lesen Sie! Immerzu lesen, das Verständnis kommt von selbst“

Strigl bringt an dieser Stelle, etwa zur Hälfte ihres Vortrags, Celans Gedicht „Sprich auch du“, in dem es heißt:

        Sprich –
        Doch scheide das Nein nicht vom Ja.
        Gib deinem Spruch auch den Sinn:
        Gib ihm den Schatten.

Um diesem Verbinden des Eros von Nous und Aisthesis Ausdruck zu verleihen, wendet sich Strigl im andern Teil ihrer Rede dem sinnlich Wahrnehmbaren erotischer „Sinnenfreuden aller Art“ zu. Dafür öffnet sie Bezüge zu Gedichten von Jannis Ritsos, von Theodor Kramer und beim Überschwang auch zu der erotisch doppelsinnigen Lyrik Christine Lavants.

        Mit der sanften Hostie des Monds
        Bin ich Sünderin nicht abzuspeisen,
        nimmer loszusprechen von der Mittagsglut
        dieser Formel zwischen Gott und Tier.

Schließlich nähert Strigl sich bei Lavant den Abgründen der katholischen Erziehung sowie der schon ursprünglich orphischen „Lossprechung von alter Schuld“ im „Schutz der Göttin der Liebe und Sinnenlust“ (Strigl nennt dies mit Lavant auch „Losspruch“) und dem letzten Schlaf als Erfüllung.

Über die Grenzen der Körperlichkeit hinaus mag Strigl bei dieser Analyse sich dennoch nicht trauen, denn sie fürchtet, mit der Entgrenzung von „Subjekt und Objekt, Sinnesorgan und Wahrnehmungsgehalt“ – wie etwa mit Mayröckers „euphorischem Auge“, ihre Sachlichkeit zu verlieren.

        DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE
        an dieser hinschmelzenden Erde an diesem Baldachin eines
        Junihimmels dessen Bläue in Wellen gebauscht und mit tiefen
        Schwalben : ich meine trunken und zuweilen verborgen […]
        VON ANGEBINN : alle Schmerzen aller Wahn schon Ewigkeiten vorher
                                              (Kurz vor Ernst Jandls Tod geschrieben)

Eine mutige Auseinandersetzung mit einzigartigen Gedichten, die zu lesen schon der lyrischen Manie wegen besonders lohnt!


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