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Daniela Seel: Nach Eden

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Katharina Kohm

Daniela Seel: Nach Eden. Gedicht. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2024. 90 Seiten. 22,00 Euro.

Nach Eden – Eva ernst nehmen


Die Doppelbewegung

Bestimmung und Selbstbestimmung, Verortung in Raum und Zeit –die Grundkonstitutionen des Seins, sich in Raum und Zeit zu bewegen, da Zeit im biblischen Mythos ja überhaupt erst mit dem Rauswurf oder, wie Daniela Seel es in einem Gespräch mit dem Wiener Lyriker Sandro Huber kürzlich im Lyrik Kabinett betont hat, mit dem Auszug aus dem Paradies beginnt, werden im Titel ihres aktuellen Gedichtbandes „Nach Eden“ im Schwanken belassen.
Die Doppelbewegung in der Leserichtung, in der Interpretation weist einerseits auf die Nachzeitlichkeit als temporale Bedeutung hin; dann wäre der Titel eine Zustandsbeschreibung nach dem Sündenfall, also nach der Zeit (Zeitlosigkeit) in Eden. Der Titel könnte sich aber auch auf eine räumliche Präposition rückführen lassen, dann wäre es ein Hinweis auf eine (Rückwärts-?)Bewegung nach Eden hin. Auch eine Vorwärtsbewegung in diesem Rückbezug wäre denkbar. Alle drei Deutungsmomente werden, vom Titel ausgehend, im Prozess bzw. Leseweg auf Lesespuren, im Auflesen bestimmter Wegmarken entfaltet. Hier wird schon darauf hingedeutet, was Sandro Huber in seiner Ausdeutung der Lesepraxis des Bandes auch beobachtet hat: Die Leserichtung erscheint nicht linear, sie ist, wie der Band selbst polyphon, netzartig und wie Seel es metaphorisch beschreibt. ein Mobile.

So provoziert der Band die Lesegewohnheiten der Rezipierenden: von mehreren Möglichkeiten und Perspektiven und Punkten auszugehen und, um in der Metaphorik zu bleiben, dass hier das „Gedicht“ wie ein Spinnennetz gewebt ist.

Die Präzision der gesetzten Denk- und Kippbilder, die Seel in ihrem Band insgesamt entfaltet und die der Titel schon erkennen lässt, erheben den Anspruch, eine sprachlich-ästhetische und körperliche Anthropologie von Eva aus zu setzen. Dies ist, so scheint mir, der Fixpunkt, der diese Perspektive erst ermöglicht, sie anders ansetzt, der anders blickt und artikuliert.
Auch thematisch werden nicht nur Mutterschaft, Geburts-vorgang, Verlust eines Kindes und der schmale Grat beim Geburtsvorgang zwischen Leben und Tod auf beiden Seiten mit Sinnsuche, Sinnlichkeit in Bezug auf intensive sinnliche Wahrnehmung und Erspürbarkeit sprachlich sichtbar ge-macht, sondern es wird auf diesem Weg die tradierte Erzählung von Schöpfungsmythos und Schuldzuschreibung des androzentrisch-monotheistischen Weltbildes und damit auch die Perspektive der domestizierenden und normativen Dimension von Zugangs- und Zugriffsweisen auf die Erde, die Frau, Gott, Ressourcen, Land, Geschichte, Gewalt, sprachlich aufgebrochen und erspürt, und es werden Worte der Verwundung zu den Wunden gelegt, indem es sich um Gedichte handelt, die sich gerade der Verantwortung, nicht normativ zu handeln, bewusst bleiben, und so bewusst einen anderen Weg des Ausdrucks abtasten.
Binarität und Opposition werden hier bewusst nicht bedient, sondern eine andere Perspektive wird realisiert, sodass ein Abweichen von den Kategorien und eine synergetische, amalgamierte und synästhetische Bewegung der Dinge dann doch einen Weg von Eden nach Eden zurück andeuten könnte, eben auf Evas Spuren.


Gedicht

In diesem Gedichtband ist nichts harmlos. Auch der Untertitel ist dabei formal und inhaltlich nicht einfach aufzulösen, sodass sich hier die Frage nach den Textgrenzen und dem Verbund der Gedichte zueinander stellt, dadurch, dass hier von „einem Gedicht“ die Rede ist, obgleich es sich rein typografisch und in Bezug auf den Satzspiegel um klar abgrenzbar unterschiedliche Texte handelt. Dieses Spiel zwischen Grenzen und deren Auflösung wird durch die Wiederholungsfiguren, aber auch durch Polyphonie, die im Gedicht zum Tragen kommt, erhalten und aufgelöst. So ist dem Gedicht „Nach Eden“ ein titelloser Text vorgeordnet, ein motivischer Türöffner oder eine Wächterin, und bezeichnenderweise thematisiert der erste Vers genau das, was Titel und Untertitel provozieren: „Aus einer Beunruhigung, einer Bewegung […]“ heraus entfaltet sich die Sprache, die sich sammelt, reflektiert, aufbricht, ausbreitet und wieder konzentriert wie ein lebendiger Organismus. Einfach von einem Langgedicht oder mehreren Gedichten zu sprechen, erscheint mir hier zu einfach. Das Arrangement ist voller Ambivalenz. An einigen Stellen im Band wird auch bewusst eine Leerseite, das Schweigen, das umzublättern ist, gesetzt.


Die erste Frau, die spricht

Von Eva aus, von ihrer ersten eigenen Entscheidung aus, werden Welt und Sprachwelt zugeordnet am Beginn von Zeit und am Beginn von Tod. Eva, die zugleich „Leben“ bedeutet und die, und das wird Seel in ihrem Gedichtband immer wieder betonen, auch das Potential des Lebensspendenden verkörpert, als Schöpfung aber auch Tod. In ihr vollzieht sich das Werden von Menschheit, mit dem Leben gleichzeitig der Tod, der mit vererbt wird. Um diese Erbschaft an Welt, um ihre Besitznahme, um Umweltverschmutzung und Verortung wieder und wieder an historischen verwundeten Orten wie dem des Herkunftsortes der Autorin, Idstein im Taunus, spannt sich ein Netz aus Individuation, der idiolektalen Sprache, von der jeder Faden ausgeht, auf den die Fäden wieder zulaufen. Immer wieder ist dem auch eine Selbstbefragung eingegeben gerade in Bezug auf eigene Gewaltpotentiale, eigene Schuld, eigene Grenzüberschreitungen.  

Es beginnt alles mit einem expliziten Wollen, einem In-die-Welt- und auch in die Sterblichkeit gehen Wollen der Frau, von Eva aus, die nicht als schwaches, schuldiges Urbild der Schuld, der Scham und der Sünde, oder verkürzt gesagt, als das Andere in Abgrenzung zum Mann entworfen ist, sondern die ihre Perspektive selbst entwirft , als eigene Entscheidungsträgerin.

So beginnt das Gedicht „Nach Eden“ mit dem Zusammenhang dieser Erbschaft von Leben und Tod, dem Anfang von Leben und so logischer weise (!) der Verbindung von Mutter und Kind:

„Mein Kind hat mir mein Sterben geschenkt.
Es ist keine Grenze, vielmehr ein atmender
Übergang, lebendig und zäh, unbeirrt,
möchte ich sagen, vom Tod.

Wie wenig Wissenschaft noch davon weiß.“ (S. 11)

Der abgesetzte Vers als Verweis und Bemerkung, dass wenig Wissenschaft noch davon weiß, von diesem Zusammenhang, von dieser Perspektive, auch möglicher Forschungsperspektive oder alternativer Methodik und Ausgangspunkt neuer Fragestellungen wird im späteren Verlauf des Bandes wieder aufgegriffen, wenn es um die sog. Risikoschwangerschaft ab Vierzig geht, an der man wohl weiterhin beinahe dogmatisch festhält, wobei hier der ästhetische Zugang, das Erfahrungswissen und die Empathie sich geändert haben.


Autofiktion und darüber hinaus

Es lässt sich aber dann doch ein Fixpunkt der polyphonen und sich in viele Richtungen bewegenden Simultanfäden des Gedichts ausmachen. Nicht versteckt, sondern klar identi-fizierbar sind die Worte an das eigene „Ich“ gebunden. Es entfaltet sich hier nicht nur die eigene Sprache und lässt sich thematisch und stilistisch mit den vorigen Gedichtbänden von Seel verbinden. Ganz offensichtlich durch den Titel schon die bei Engstler erschienene Publikation „Auszug aus Eden“, aber auch mit dem früheren Band „Was weißt du schon von Prärie“. Die eigene Sprache, die auch mit den vorigen Gedichtbänden durch partielle Wiederaufnahmen und Anlehnungen kommuniziert, wächst in diesem Band fort. Hier verortet sich das Geschriebene auch auf die eigene Vergangenheit, an den Herkunftsort und somit auf den Ort des Aufwachsens mit seinen dunklen Kapiteln ihrer Geschichte.

In Bezug auf Idstein im Taunus werden zwei Verbrechen, die an diesem Ort stattfanden, aufgedeckt: die sog. „Euthanasie“-Morde der NS-Zeit und auch Hexenprozesse. Das, was geschah wird nicht nur dokumentiert, sondern durch recherchierte Aufzeichnungen, die in den Band getragen werden, wieder aktualisiert. Diese dokumentierten Zeugnisse bleiben als Erinnerungsspuren den Orten eingeschrieben. So wird an dieser Stelle auch der Ton der Texte anders. Diese „Unheimlichkeit“ von Orten der Verbrechen wird selbst dem unwissenden Kind, das eine Ahnung und ein Gespür hat, intuitiv eingegeben:

„Einer meiner möglichen Schulwege führte
durch das Gelände des Kalmenhofs. Der Weg
lief steil bergan, rechts oberhalb der Böschung
thronte das verwaiste Kinderkrankenhaus,
unheimlich. Ein Spukhaus, zu dem ich mich nie
vorgewagt habe. Ich hastete daran vorüber,
kam atemlos oben an. Dass dort hinter der Böschung
ein geheimer Friedhof für mehrere hundert
ermordete Kinder lag, Leichen in Gräbern gestapelt,
das jüngste kaum ein Jahr alt, wusste ich nicht. Warum.“ (S. 37)

Hier wird die Spur eines diffusen Spuks, einer Intuition später nachgegangen, und eine eigene aktive Recherche erst enthüllt das Kinderkrankenhaus als Tatort der „Aktion T4“. Makaber dabei ist das, was der Band zusätzlich aufdeckt, nämlich eine Geschichte der Verharmlosung und des Verschweigens und der Kontinuitäten. Die Marginalisierung der NS-Verbrechen an sog. Kranken und Behinderten erstreckt sich bis ins 21. Jahrhundert. Seel bringt es auf den Punkt, dass bis heute Euthanasie-Opfer und deren Angehörige keine nennenswerte Entschädigung erhalten haben. In seinem Dokumentarfilm „Alles Kranke ist Last“ zeigte der Historiker Ernst Klee in den 1990er Jahren diese Kontinuität des Verschweigens und auch die Weiternutzung der Gebäude als Erziehungsheime, wie auch Misshandlungen und Vernachlässigungen gerade noch im Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen stattgefunden haben. Das Buch „Bambule“ von Ulrike Meinhof hatte diese Zustände auch schon thematisiert und recherchiert. Seel bringt diese Untragbar- und Unerträglichkeit in wenigen Gedichten auf den Punkt. Dabei beschäftigt sie sich intensiv mit der Arbeit des Kulturwissenschaftlers Christian Schneider „Der Kalmenhof. NS-„Euthanasie“ und ihre Nachgeschichte“. Nach diesen Gedichten, die direkt hintereinander folgen, erscheint die einzige freie Seite im Band. Schweigen auf Seite 42. Auch die Seitenzahl fehlt. Die leere Seite bringt das Ungesagte und Unsagbare zur Erscheinung, gibt der Zäsur einen Ort im Band. Einer Zäsur, die ein Nicht-weiter -Können war.


Der Wal im Raum

Ein anderer Faden, der sich springend im Band verfolgen lässt, ist das Auftauchen des Wals, des Dunkels, des Ozeanischen als Geburtsort allen Lebens und Geheimnis. Ein mattes Leuchten zwischendurch. Diese Gedichte sind verschlungen, onomatopoetisch, gesangartig, setzen sich meisterlich fort, jedes Wort, die Silben aneinander, voneinander. Der Modus des Gesangs taucht in die Wurzeln und Gräben lyrischen Sprechens.

„Sing mir, Walgesicht, von der Weisheit
des Specks, seiner klugen, verwunschenen
Treue, die dich tauchen lässt, trauern,
dauern. […]“ (S. 32)

Resonanz, Reziprozität zwischen diesem Tier und dem Menschen im Verhalten des Singens, Klagens, Trauerns in der Tiefsee – einer riesigen Sanftheit, die dem Buch ebenso eingeschrieben ist wie die Frage nach Gewalt und das Anzeigen von Verbrechen und Tod. Am Ende des Bandes heißt es. „Ich habe, was ich brauche.“ Ein menschliches Panoptikum, Übergang und Manifestation zugleich zu beschreiten und zu bestreiten.


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