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Daniel Walter: Das Gesamtwerk

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Denis Ullrich

»Der letzte ›aussersprachliche‹ Punkt«

Das Gesamtwerk Daniel Walters bei weissbooks



Ein Gesamtwerk auf nur 263 Textseiten – weniger noch, wenn wir uns auf Daniel Walters Werk konzentrieren und die Tara subtrahieren: das sehr persönliche Vorwort des Herausgebers Christian Kläui und das minutiös analysierende, sowohl Walters Schreiben als auch dessen Position in der heutigen Schweizer Literatur erhellende Nachwort des Philosophen und Literaturkritikers Samuel Moser sowie den zehnseitigen Anhang mit Textnachweisen.


Zu Lebzeiten veröffentlichte Walter neun Gedichte, drei davon, geschrieben im November und Dezember 1978, als Miniaturzyklus Gedichte für Regine Bebié (und SAN MARCO) – hier bereits der Zweifel an der Möglichkeit des Ausdrückbaren (»Die Sprache der Beschreibung hat zu schweigen begonnen«) – und, neben zahlreichen Skizzen und Romanausschnitten, die in Literaturzeitschriften abgedruckt wurden, nur zwei vollendete, geschlossene Prosawerke: 1975 Aus einer heftigen Nacht. Fünfzig-Tage-Buch und 1984 die Erzählung Die Phiole ohne Blume, die im Piper Verlag erschien.
Aus einer heftigen Nacht, Walters erstes, 135 Seiten umfassendes Buch, das im Greno Verlag erschien, fehlt in der vorliegenden Werkausgabe: der Autor hat es in seinem letzten Willen so verfügt.

Dieses (Fünfzig-Tage-)Buch, das offen blieb, dessen Inhalt nicht festgelegt war, eine Collage von Texten, Fotos, Skizzen und leeren Seiten, ist ein Werk, das sich weiterschreiben sollte in unzähligen Versionen, mit Hinzufügungen des Lesers, und das Daniel Walter nach der Veröffentlichung, so dürfen wir mutmaßen, nicht mehr aus dem Kopf ging.

Verleger Rainer Weiss war mit Daniel Walter auf besondere Weise verbunden: er besuchte - in seiner damaligen Funktion als Lektor beim Piper Verlag – den Autor im Jahr 1983 in Biel. Weiss betreute die Phiole ohne Blume und es entwickelte sich eine Freundschaft zu dem jungen Schweizer, einem »eleganten, wütenden und verzweifelten Herren« - so beschrieb er ihn einmal, viel später. Vierunddreißig Jahre nach diesem Treffen verdanken wir Rainer Weiss sowie der für das operative Geschäft bei weissbooks verantwortlichen Mitgesellschafterin Anya Schutzbach und dem Herausgeber Christian Kläui – enger Freund Walters und von diesem als literarischer Nachlassverwalter eingesetzt - eine kleine verlegerische Meisterleistung, die das komplexe Ideengebäude des Autors archiviert, der – geboren 1953, gelernter Verlagsbuchhändler, Sohn des Schweizer Verlegers und Schriftstellers Otto F. Walter – eine der großen Hoffnungen der Schweizer Literatur war.

In der Medizin bezeichnet Konvolut eine Verwachsung oder Verschlingung zum Beispiel von Blutgefäßen. Die hier sich ausbreitenden und zu Sätzen erstarrten Gedanken, Betrachtungen, Konstrukte, Poesien, Utopien, Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, das Material, zum Beispiel die in den Raum gestellten Teilstücke für Romane (Elisa, Benedikt), der Beginn einer möglichen Erzählung (Ann Bernet) – mehrfach nicht mit Titeln versehen (welche dann von Christian Kläui gesetzt wurden) – scheinen sich, zumindest wenn man das Buch wie eine abgeschlossene Geschichte behandelt, ineinander abzubilden und sich zu ergänzen. Verschlingungen aus Sehnsüchten, aus räumlichen sowie zeitlichen Ordnungsversuchen, von denen der Dichter nicht wirklich substanzielle Ergebnisse erwartet: »ICH ZIEHE DIE FRAGEN VOR, DIE OHNE ANTWORT BLEIBEN« [Majuskeln im Original], meint das lyrische Ich in Die Kinder von Marx und Coca-Cola (Jean-Luc Godard).
In einem weiteren auf den Titel eines Films von Godard bezugnehmenden Gedicht, Le nouveau Monde (Jean-Luc Godard), wird der Wunsch formuliert [Majuskeln im Original]: »JENEN KLINISCH BEKANNTEN ZUSTAND DER MELANCHOLIE EINFACH LEIDWERDEN«.

In der Phiole ohne Blume, die wir als Dokument einer Bewusstseinsspaltung lesen können, wird diese um sich greifende Melancholie als Absturz in die Leere enden. »Während sie sich aufmachte zu verschwinden, kam ihm der Gedanke, diese Vase sei leblos, tot, tot wie er es war, und er nannte sie Die Phiole ohne Blume, denn keine Blume würde jemals aus ihr Blühen.« [Schreibweise »Blühen« im Original.]

»Er und er sassen [Schreibweise im Original] sich gegenüber«, so beginnt Zero. Die Zeit, in der ich schreibe.
»Zero«, so Walter in einem handschriftlichen Zusatz, benenne einen Zustand, der unmittelbar vor dem Beginn unserer artikulierbaren und artikulierten Sprachgeschichte vorzustellen sei als der letzte »aussersprachliche« Punkt. Einmal in der Sprache, das heißt für den, der aus jenem Ausgangspunkt einmal zu sprechen und zu schreiben begonnen hat, sei eine Rückkehr nicht möglich [Samuel Moser] – und weiter: die Leere zu füllen, gelinge Walter zwar nicht, aber gestalten zu können, müsse sein Glück gewesen sein.

Walters erste Gedichte und Prosaskizzen der siebziger Jahre sind naturgemäß noch von den Eindrücken des Jahres 1968 getönt, wenngleich minimal. Doch dann fehlt eine Fortsetzung und idealerweise eine Entwicklung der bereits gewiss gescheiterten Neuformung, die sich in der zweiten Jugendbewegung der achtziger Jahre wiederholt. Ausgerechnet die Erzählung einer Bewusstseinsspaltung als Beschreibung eines Zustandes in drei Bildern führt den Dichter zum Erfolg. Aus Zelle, Dachkammer, psychiatrischer Anstalt entwickelt sich das ErSieEs: das Fehlende wird sichtbar. In Die Zeit, in der ich schreibe kommt es zum Aufschrei: »Die Zeit bin ich. Bin ich nicht, schreibe ich, die Zeit, in der ich bin.« Und der Erzähler bemerkt das Fehlen einer »aussersprachlichen« Ausdrucksmöglichkeit, er sucht danach: das Vorhaben, Leere, die nicht leer ist, und Zeit, die Text und erzählendes Ich vereint, in eine Form zu bringen: »Die Seiten … und … des Buches bleiben unbeschrieben und sind genannt: ›1 Zero‹.«

Das schmale Werk Daniel Walters ist für die meisten deutschen Leser heute ein Geheimtipp – doch ob es nun als abgeschlossen oder offen gedeutet werden mag, es stellt fraglos einen Höhepunkt Schweizer Literatur dar. Wer mit Daniel Walters Texten schon einmal in Berührung gekommen ist, wird die jetzt verfügbare sorgsam edierte Gesamtausgabe begrüßen; für den Leser erschließt sich ein Organismus aus gläserner Auseinandersetzung mit einer unterschwellig im Konjunktiv stattfindenden Wirklichkeit.

Dabei hinterlässt Walters Werk einen Eindruck, den der letzte Satz [Seite 87] der Prosaskizze Zero hervorruft: »Als sei der Sand zerfallen durch das Sieb in die Körner; in die Bestandteile das Ganze: Die Sprache der Wörter.«

Sand hat keinen Halt; obgleich seine Bestandteile sichtbar sind, zerfließt er in Transparenz, dem Wasser gleich. Vielleicht stimmt es, dass Daniel Walter scheitern musste, weil er keinen Halt fand. Sein schriftstellerisches Werk jedoch sollte nicht als ein Scheitern verstanden werden.

»[…] vielleicht sollte ich mich in die Wirklichkeit / verlieben / ein Realist werden / und nur noch im Schlaf träumen« - lesen wir in dem Gedicht Elegie in Beton aus dem Januar 1972.

Die Fragen: »Gäbe es eine Maxime, die sämtliche Lebensbereiche, auch die imaginären und die vermuteten, zu überschreiben im Stande wäre, gäbe es dann die Utopie und ihren Begriff?« und »Gäbe es den Begriff Maxime ohne die Lebensbereiche oder ihre Präsenz im Bewusstsein, auch die der Vermutung?« werden bei Daniel Walter in Zero. Die Zeit, in der ich schreibe mit nein und doch ja beantwortet. Ihm ist evident, dass jede literarische Wirklichkeit unzureichend bleiben muss. Wirklichkeit ist vorstellbar und das Überschreiben mit literarischer Wirklichkeit bleibt Annäherung.

Daniel Walter schied, seit langem von einer psychischen Erkrankung gepeinigt, am 9. September 2008 aus dem Leben.


Daniel Walter: Das Gesamtwerk. Herausgegeben von Christian Kläui. Mit einem Nachwort von Samuel Moser. Frankfurt a. M. (weissbooks) 2016. 263 Seiten. 22,00 Euro.


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