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Daniel Breuer: Grand Mal

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Bernd Lüttgerding

Daniel Breuer: Grand Mal. Roman. Berlin (VHV Literatur und Kultur Verlag) 2021. 978-3-948574-04-8. 204 Seiten. 17,00 Euro
E-Book: 978-3-948574-05-5. 10,00 Euro.

»Irritation bzw. Schönheit«


Wenn ich ein Buch besonders gut finde, tue ich mich schwer damit, etwas darüber aufzuschreiben, aus bloßem Misstrauen gegenüber meinem flugs aus dem Ärmel geschüttelten Urteil. Wie leicht verrennt man sich; wenn ich begeistert bin, werde ich mir anstrengend und will mich bremsen und lieber nochmal skeptisch abklopfen: Habe ich mich besoffen machen und verführen lassen? Wieso denn eigentlich derart begeistert?
      Im Fall von Daniel Breuers Grand Mal habe ich meine Begeisterung ein paar Wochen lang verdrängt und habe ihr Objekt, diesen Roman (- Grand Mal nennt man den großen tonisch-klonischen Krampfanfall, den Epileptiker kriegen können, konvulsiv wie die Schönheit nach Breton im Motto) mir immer wieder aus dem Weg geräumt und nüchternen Abstand gesucht.

Aber es hilft nichts. Die Begeisterung bleibt.
     Man möchte dieses Buch zur Reihe intensiver und eigenartig stilbewusster, an Umfang kleiner Prachtromane ohne vorder-gründig allzu tragende Handlung stellen, die immer wieder mal am Strand der Literatur angespült wurden, alles Ein-Personen-Geschichten komischerweise und alle verhandeln die bloße Schwierigkeit, zu leben, z.B. William Beckfords Vathek, Karl Philipp Moritzens Andreas Hartknopf, Joris-Karl Huysmans' À rebours, - eventuell auch noch Robert Walsers Räuber oder Gesichter im Wasser von Janet Frame? (Mit wenigem Nach-denken ließe sich da eine ganze kleine Bibliothek zusammen-stoppeln...).

Jedenfalls merkt man gleich, dass man in keinem an großer Glocke baumelnden Saisonroman versinkt, sondern gewisser-maßen wellenreitet auf einem Glücksfall. In Grand Mal steht der einen noch eine zweite Person gegenüber, kein Sancho Pansa oder Stichwortgeber, sondern ein eigenständiger Freund:

Hugo Pfohlen zieht, er geht auf die 50 zu, mit drei Frauen aus, um in Valparaíso ein Nagelstudio zu eröffnen, mit dem er sich gegen das Leben in Stellung bringen will, und zwar in einem Haus seines Freundes Dr. Eduardo Gorgani, der auch lebt, also auch in Schwierigkeiten ist. Desgleichen die drei Frauen, nur sind ihre Schwierigkeiten andere als die der Männer.

Breuer gelingt es, das Exotische der Handlungsorte, Chile natürlich vor allem, aber in Rückblicken auch den Iran, Hongkong usw. mir im Vorübergehen ohne explizit verweisende Beschreibungen aufzutischen, so dass ich mich bei der Einbildung ertappen kann, ich hätte dort selbst lange gelebt, so vertraut, anschaulich und richtig kommt mir alles vor. Die ganze Grand Mal-Welt rückt mir von Anfang an befremdlich nah, obwohl nie etwas ausführlich um seiner selbst willen beschrieben wird; alles taucht sehr dynamisch gleichsam aus der Bewegung auf.
       Hugo hat deutsche Wurzeln, Eduardo persische, und Irene ist Belgierin. Sie alle tragen ihre Geschichten wie Topfpflanzen mit sich herum. (Eigentlich habe ich keine Lust zu erwähnen, denn ich finde, es sollte keine Rolle spielen, dass Daniel Breuer selbst in Teheran geboren wurde, in Santiago de Chile, Istanbul und Brüssel aufgewachsen und viel in Asien und Mittelamerika gereist ist. Aber nun, mag es also die Wahl der Handlungs- und Herkunftsorte rechtfertigen.)
      Die Geschichte rührt Positionen an, die ein jeder einzunehmen sucht gegenüber dem höchst verschwommenen Konzept eines "Erfolgs im Leben" (Hugo hat nie etwas Relevantes erlernt - er hat keinen Beruf, das ist seine größte Freiheit); es geht um Epilepsie (an der Hugo leidet), um Drogen (aber nicht sehr), um die feinsinnigen Hindernisse der Liebe, allem voran um Freundschaft und überhaupt um das abgründereiche Leben der Erwachsenen, das immer belastet bleibt durchs Bewusstsein, einmal Kind gewesen zu sein.

Ihre Freundschaft war, wenn sie ehrlich zu sich waren, bereits in ihren Anfängen alles andere als eine sich anbahnende, erfreuliche Achterbahnfahrt gewesen. Keine sich um ihrer selbst willen emporschraubende Inspiration, vielmehr ein mühsames, unglaublich kräfteraubendes Vorankommen. Wie ein umgestürzter Wagon ohne Räder, den sie tagelang durch den knöchelhohen Sand drückten, an ihm zerrten oder zogen, je nachdem, wer sich gerade an welcher Seite dieser Freundschaft befand. Ihn zwischendurch resigniert stehen ließen. Erschöpft, gleichgültig, sich selbst oder gleich seinem unausweichlichen Verfall überlassend. Dann ein neuerlicher Versuch, das rostende Monster doch noch mal um einige Zentimeter zu bewegen, vorwärts zu kommen. Etwas gegen den ewigen Stillstand zu unternehmen. Wenn sie ehrlich zu sich waren. (S. 82-83)

Immer ergibt sich eins aus anderem, die erzählerische Ordnung - darin schon ist das Buch ein großer Wurf, denn so eine Komposition kann man nicht lernen, sondern sich allenfalls erarbeiten – hangelt sich an raffiniert gesetzten Leitmotiven entlang, die, wie etwa das immer wiederkehrende Gelb, nichts zu symbolisieren scheinen, zumindest nichts, wofür es andere Worte gäbe. Wie im echten Leben weiß man nicht, was als nächstes erzählt werden wird und würde Gefahr laufen, den Text "schwierig" oder "kompliziert" zu finden, wenn man nicht von der Schönheit der einzelnen Sätze und Metaphern immer dazu angehalten wäre, "im Jetzt zu leben und zu lesen" und sich keine Sorgen zu machen, ob man die Geschichte nicht besser in den Griff bekommen können müsste als ihre Helden.
    Diese Ordnung ruht auf einem zerbrechlich wirkenden Fundament aus elliptischen Relativsätzen, die im Zeigen abgebrochen scheinen, oder aufgegeben; so gelingt es Breuer, schon seine Syntax einen Gutteil der Geschichte erzählen zu lassen mit Sätzen, die wie Scherben zum Mosaik zusammengelegt sind: Gegenüber von Fischläden, von Galerien und fluoreszierenden Pennern. Oder bald darauf: Die Möwen, die sich in diesem Augenblick von ihren Startplätzen erheben.
      Angenehm finde ich auch, wie entspannt die Erzählung zwischen Präsens und Präteritum changiert, während sie uns auf jeder Seite überrascht und beglückt: Also leben. Leben, wie andere Leute Luft anhalten; wie bewusst, aber nie gesucht der Stil ist, der immer, wenn zwischen einem Saloneuphemismus und einem Arsch zu wählen ist, sich ohne zu zögern des letzteren bedient. Damals war es der Geruch einer Hyazinthe gewesen, der sich später allerdings als Geruch eines gewöhnlichen Klosteins herausstellte, und der ihn, wie eine verirrte Sirene, nach mehreren Stunden zurück zu den Lebenden geführt hatte. (S. 117)
       An dieser Stelle kann man sich versucht fühlen, die Ästhetik des Hässlichen von Rosenkranz hervorzukramen, doch damit kommt man kaum weiter. Eher vielleicht mit dem Persischen, z.B. den Betrachtungen Goethes über orientalische Dichtung (Ein immer bewegtes öffentliches Leben, in welchem alle Gegenstände gleichen Wert haben, wogt vor unserer Einbildungskraft, deßwegen uns ihre Vergleichungen oft so sehr auffallend und mißliebig sind. Ohne Bedenken verknüpfen sie die edelsten und niedrigsten Bilder, an welches Verfahren wir uns nicht so leicht gewöhnen.), die gipfelt in der Nachdichtung von Nezāmis Gedicht über Jesus und den tote Hund, das erzählt, wie alle den toten Hund und seinen Gestank abstoßend finden; als aber Jesus einen Blick auf den Kadaver wirft und feststellt Die Zähne sind wie Perlen weiß, wird durch sein Wort den Umstehenden, durchglühten Muscheln ähnlich, heiß.
     In ähnlicher Weise "heiß" wird mir bei Breuers Roman und führt mich näher an das heran, was Nelson Goodman noch als Paradox der Hässlichkeit bezeichnet hat. Die Brüche, die Scheiße und Speichelkrusten stehen hier nicht mehr im Gegensatz zum Schönen des Stils und der, oft die (womöglich ohnehin willkürliche) Grenze zum Prosagedicht überschreitenden Vergleiche, sondern sie sind Teil der kontrapunktischen Organisation des Erzählten: Irritation bzw. Schönheit. Ein Übriges tut der Humor, der den ganzen Text elastisch hält.

Ich frage mich, ob es mir nicht noch besser gefallen hätte, wenn dieser, Wirklichkeit von Außerhalb der Welt zu mir herspiegelnde Roman, dort, wo er von Hugo Pfohlens Referenzautoren erzählt, mit ausgedachten Namen und Werken arbeiten würde? - Denn die echten, Nicanor Parra, Neruda, Breton, Bataille und Ernst Jüngers Eumeswil kommen mit so viel Gepäck, aktivieren so viele Vorurteile und provozieren so (egal, ob ge-, oder ungerechtfertigt) kennerisches und kennerisch abtuendes Nicken oder, schlimmer noch, infolge Nichtkennens frustriertes Kopfschütteln, jedenfalls einen Druck, auch für die Leser als Referenz zu wirken, unter dem erzählerische Schlagkraft sich nicht immer zwangsläufig bündelt, sondern mitunter auch in die Gefahr geraten kann zu verpuffen.
       Eine Ausnahme ist da komischerweise Hafis. Dessen Erwähnung und die Ausführung zu seinem Diwan funktioniert als Ableitung des Persien-Motivs sehr gut. Weil man seinen Diwan nämlich - genau wie das Leben selber, hatte sein Vater immer gesagt - an jeder x-beliebigen Stelle aufschlagen konnte, aufschlagen sollte, eine Seite umblättern, und schon fanden sich dort Antworten, die, zugegeben, manchmal nicht leicht zu verstehen waren, aber gerade die Beschäftigung mit ihnen war es, das schlichte Aushalten der Rätsel, das einem einen möglichen Weg aus den Trichtern der Gegenwart wies. (Derartige Praktiken werden für uns Heutige ja wieder ausgesprochen interessant...)
     Ich nehme meinen Rezensionsauftrag ernst und probiere es umgehend aus, schlage auf, blättere um und finde mich vor dem ersten Gedicht des Abschnitts Der Buchstabe J e:

Herz, am Gaue deines Freundes
Wandelst nimmer du vorbei,

Hast was nöthig ist zum Glücke,
Weisst doch nicht, was handeln sei;

Hälst den Schlägel "Wunsch" in Händen,
Schlägst damit den Ball doch nicht,

Thust mit einem solchen Falken
Auf die Lust der Jagd Verzicht!

Dieses Blut, das dir durchwoget
Deines Herzens Ocean,

Wendest du nicht zu der Färbung
Eines schönen Bildes an.

Deiner Kehle Odem wurde
Nicht durchwürzt von Moschusduft,

Denn du geh'st am Gau des Freundes
Nicht vorbei, wie Morgenluft.

Heim von dieser Wiese - fürcht' ich -
bringst du keinen Rosenstrauss,

Denn du hältst im Rosengarten
Nicht den Stich der Dorne aus.

Einem vollen Becher gleichst du,
doch du wirfst zu Boden ihn,

[...]

... und ich staune. Es funktioniert.

Es funktioniert wie dieser ganze Roman, der Freiheiten verhandelt (War das also die Enttäuschung, von der man sagte, dass sie irgendwann in Befreiung übergeht?), Selbstverwirklichung, Unfähigkeit und Scheitern. - Das klingt doch... ja, genau wie die vier Eckpunkte, zwischen denen man die jüngere Weltgeschichte zusammenfassen könnte. Aber vor allem geht es um Schönheit (bzw. Irritation), die uns über den Pferch dieser vier Eckpunkte erhebt.
      Ein irrwitzig gelungenes Buch - auch in verlegerischer Hinsicht: liebevoll gestaltet, äußerst sorgfältig lektoriert und nahezu druckfehlerfrei! -, dessen Zeit ohnehin kommen wird, dessen Autor ich aber selbstverständlich wünsche, dass sie jetzt schon beginnt.


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