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Daniel Ableev: Mehlhäufchen

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Armin Steigenberger, Kristian Kühn

Daniel Ableev: Mehlhäufchen. Berlin (brueterich press) 2021. 180 Seiten plus Compact Disc („Mehläudchen“). 20,00 Euro.

Über Daniel Ableevs “Mehlhäufchen”


Armin: Eigentlich habe ich schon länger keine Lust mehr, Rezensionen zu schreiben. Oder nicht die Ausdauer. Hier ist es anders, denn der letzte Band (Nr. 20), erschienen in der brueterich press, bei Ulf Stolterfoht, darf nicht unter den Tisch fallen. Scheinbar finden sich keine Rezensenten für dieses Buch. Und wenn, dann solche, die sich damit schwertun, die Ärmel für Geld hoch-zukrempeln, um in, sagen wir, etwas naiver? Opulenz Dinge zu verfassen wie:
   “Ein imposantes Sprachfeuerwerk, anarchisch, blasphemisch, chaotisch, demontierend, entzückend”?! … auch wenn das alles richtig wäre, ist dem Buch wenig gedient in einer bloßen Beschreibung bzw. Unterstreichung des Sichtbaren.
      Als ich Ableevs Band zur Hand nahm, flog mir ein paar Sekunden später die Schädeldecke weg.

Kristian: Oh je, was nun?

Armin: Zumindest hob sie sich spontan ungefähr 2 cm. Hin- und hergerissen zwischen der Verzückung und einer abgrundtiefen Irritation tauchte ich punktum tiefer ein. Hirnrindenkitzel? Was ist da denn los?

Wie du weißt, ist das Leben ein unsteter Fluss aus hochdynamischem Chaosin, welches eine sonderbare Stille erfunden hat (…)

Ich habe die Texte laut gelesen, habe sie anderen vorgelesen und freute mich sehr an dieser Sprache, die ich nicht durch ein Prädikat “schnell mal” beschrieben haben kann ... so etwas hatte ich noch nicht gelesen. Hier scheint alles anders, die Worte stehen buchstäblich Kopf, gehen spazieren, verdrehen sich selbst, kriegen Präfixe, Suffixe und machen Männchen, stellen sich quer und lachen sich kaputt. Ist das noch normal?! Nein, ist es nicht, zum Glück!
    Okay, ich habe bekennenderweise eine Affinität zu “sprachartistischen” Werken, wie sie sich m.E. nicht wirklich häufig ereignen … zur sogenannten Sprachartistik (das ist ja immer der Begriff all derer, die es einfach nicht hinbekommen, mal eine Lyrik, die nicht aus lauter linearen, schnurgeraden Sätzen und Gedanken besteht, gelten zu lassen): Es ist eben kein bloßes Wortgeklingel, sondern es klingelt auch unter der Haut.

Leichengift ist das einzige Gift, das Männer und / Frauen mittleren Alters zu sich nehmen können, ohne / das Koma aufwendig zu verlassen.

Einen Moment lang war ich fast traurig, denn dieses Erlebnis, das ich hier plötzlich wieder habe, hatte ich die letzte Zeit, und fast muss ich sagen, die letzten Jahre, nicht mehr oft. Punktuell ja, phasenweise in Büchern, erwischte es mich, erwischt mich ein Buch (ein Satz, ein Vers) auf dem linken Fuß. Und wenn es das nicht tut, nun ja, warum soll ich mich damit beschäftigen?

Kardiobruschetta sollte man untersagen, wenn die Femänner sich nicht beherrschen können und wiederholt Biestrauch aus dem Hobbykeller steigt.

Ich muss es wirklich so sagen. Gut, es gibt ein paar Protagonist:innen, die aber so selten Bücher herausbringen, dass man Jahre zu warten hat. Was man stattdessen liest, ist – mit Verlaub — eine gewissermaßen gesettelte Empfehlungslistenlyrik, interessantistische Preisträger:innenlyrik, mainstreamige Agendalyrik, bräsige Bevölkerungsgruppenlyrik, sujetfixierte Streber:innenlyrik, unterhaltsame Betroffenheitslyrik, bauchnabelfreie Lyrik, vegane Popkornlyrik (war das schon böse?) — eben der ganze Katalog derjenigen bzw. des inner circle (oder die, die fest im Sattel sitzen und sich dergestalt selbst als tonangebend befinden) feiert sich selbst, mal wieder, von X für U empfohlen, I’m sorry.

Kristian: Was heißt, es tut dir leid. Davon redest du doch schon seit Jahren, dass du packendere Gedichte erwartest. Ich für meinen Teil habe beschlossen, hier jetzt mal den Advocatus diaboli zu geben.

Armin: Ich lehne mich gerade aus dem Fenster und trete vermutlich ein paar Leuten auf ihre Kragen … Eigentlich erwarte ich gar keine Gedichte, sondern Erlebnisse. Immer dann, wenn ich das Gefühl habe: Das ist hübsch gemacht, das ist ein bisschen intellektuell, ein bisschen erbaulich, hier ein netter Aspekt, dort ein ganz gutes Wortspiel, eine feine Beobachtung, ein wie auch immer beherztes Konstrukt, bleibt es Konstrukt. Ein Dichterkollege sprach mal von der Zweifingerlyrik. Bei Ableev wird auch konstruiert, aber es ist für mich zu keiner Zeit jenes inhaltistische Schunkeldeutsch, das mehr lyrisch klingt, als es ist. Zudem habe ich das Gefühl, Ableev hat hinter allem ein Anliegen, er schrei(b)t um sein Leben. Es ist ihm sehr ernst damit.

Politik der Halbheit nenne ich das, was ich sehe, wenn ich nur ein Auge öffne, oder zwei jeweils zur Hälfte, oder drei jeweils zum Donnertripper etc.

Ich weiß nicht, wie lange ich warten musste, bis das geschehen ist – Daniel Ableevs “Mehl-häufchen” hat mir zum ersten Mal wieder (nach langer Zeit und ungefähr 28 Gedichtbänden ‘in the meantime’) das beschert, was für mich Dichtung ist. Was für mich auch Dichtung ist! Mir flattern die Backen, ich kriege kaum Luft, vor Spannung, mir wird der Kaffee kalt, ich bin von den Socken. Und es ist noch nicht mal in so tumbe Worte zu fassen wie “Ssschiere Sprachwucht” (o.ä.), denn es sind ja ‘nur’ Mehlhäufchen! Was ist das eigentlich für ein Titel?

Kristian: Lese ein bisschen im Mehl – von Häufchen kann kaum die Rede sein, höchstens von wandernden, wechselnden Treibsand-Rinnsalen. Am Anfang noch als Pseudogedichte überschaubar, doch dann setzt diese lange poetische Essayschleife ein, die selber ein wandernder Mehlstrand in sich ist, mit extrem vielen Klümpchen ja, die wie Mehl oder Kleie im Gesicht haften bleiben. Und da stell ich mir jetzt die Frage, steig ich aus und lass dich sozusagen mit deiner Begeisterung allein, kümmere ich mich um meine eigene Welt mit meinen eigenen Aufgaben, oder versuche ich den Abdruck, den die Kleie an meinem Gesicht als Maske hinterlässt, abzubürsten, um ein neuer Mensch zu werden, irgendwelchem reinigenden Wasser nachjagend, das Ableev mit seinem Mehl ausstreut. Ich lese noch ein bisschen weiter, ob ich eine Fährte erkenne, oder nur Scherz, Satire und Verachtung – und kein Reinigungsbad.

Armin: Ja, genau, es hat System, es ist schon mehr, als wie du sagst, Scherz, Satire und Verachtung, es ist voller Sarkasmus und voller Spitzen und Seitenhiebe, es ist ein wahres Trommelfeuer der Seitenhiebe, der direkten Hiebe, manchmal überbordend, es ist unglaublich dicht, aber es hat dadurch einen angenehmen und sehr anspruchsvollen Grundtenor.

Kristian: Also, Daniel Ableev wohnt ja in (Bonn-) Mehlem – vielleicht nur ein Scherz, dass er von Mehlhäufchen redet. Ich hab nochmal an einer anderen Stelle ein bisschen gelesen, das führte wieder ganz woandershin (Rilke, Grenadiere, Mittelalter, usf.), dann habe ich in die CD gehört, die ist ja auch nicht ohne, recht drängendes elektronisches klavierähnliches Gehämmer, von Ableev geleitet – Mehl klebt an den Fingern, man könnte ja auch sagen, Reinigungsmehl war einst als Voropfer gedacht, dann Opferkuchen, das Wortopfer – doch wer soll diese kleinen Worteinheiten in den Ofen bugsieren und backen? Ist das Buch der Ofen? Und der Backvorgang ist dir selber als Leser*in überlassen?

Armin: Beim Titel schon stolpere ich und denke nach. Recherchiere und finde etwas, was ich zunächst nicht verifizieren kann, aber es geht um Beschwörung, genauer um sumerisch-akkadische Beschwörungen. Und Stolpern ist vielleicht ein ganz gutes Bild, denn man stolpert sehr oft und sehr häufig. Sagen wir es so: Man stolpert von Wort zu Wort und hat es so mit einer ständigen Irritation zu tun. Irritation ist Programm, und das muss man in diesem Ausmaß natürlich mögen. Man kann die unglaubliche Dichtheit auch als überfordernd empfinden, in jedem Buchstaben hinter die Dinge zu blicken; jedes Wort wird anders apostrophiert als gewohnt; jede Silbe aufgeladen; anders verdrillt; das ist krass; aber macht einen Heidenspaß. Auf mich haben solche Verfahren, wie eingangs gesagt, eine sehr erhebende und erheiternde Wirkung; ich will stolpern, ich will nachdenken, ich will mich irritieren lassen.

Neuralingo ist nixgut, wenn man versucht, Gott smallzutalken.

Es geht durchweg um Religion, das Buch reibt sich durchgängig an Götterbildern, der Up-Gott ist ein stehender Begriff, genauso wie der Öhrling. Über Illustrationen im Buch, die eine weitere Ebene eröffnen, die auch sehr individuell und einzigartig sind, werden diese Themen um das Jüdische Opferwesen und um die Götterbilder allgemein noch vertieft.
     Hier passiert etwas jenseits jeglicher convenient poetry (also aller schnell und leicht verzehrbaren Dichtungskost), sie ist sperrig, sie ist. Als flögen einem die Wortspiele, Sprachspiele, Wortabweichungen und spitzbübisch-subversiven Sentenzen nur so um die Ohren – bestückt mit allerhand Ironie, Sarkasmus, bitterbösen Finten, wilden & irrwitzigen Ideen.

Kristian: Da fällt mir der Vorwurf ein, den einst Sainte-Beuve in einer Rezension Baudelaire zu dessen „Blumen des Bösen“ machte: „Kurz, M. Baudelaire ist es gelungen, sich am äußersten Ende einer für unbewohnbar geltenden Landzunge und jenseits der Grenzen der bekannten Romantik einen wunderlichen, reichverzierten, vielgequälten, doch auch koketten und geheimnisvollen Kiosk zu errichten, […] Diesen seltsamen Kiosk mit seinen Intarsien, der mit seiner höchst bewussten und buntgemischten Originalität seit einiger Zeit die Blicke auf die äußerste Spitze der romantischen Kamtschatka lenkt, nenne ich die folie Baudelaire.“ Und ich würde diese Spitze mal die folie Ableev nennen. Denn dieser kommt bekanntlich aus Nowosibirsk, und ich glaube, bis Kamtschatka ist es von da nicht allzu weit.

Armin: Ideen, die ab und zu auch düster sind, schwarzgallig, teils verbittert, aber darüber liegt oft etwas ganz Leichtes, ein geradezu göttlich hochtönendes, feines Kichern ... mir ist das weitgehend sympathisch und es macht auch großen Spaß, das zu lesen. Vielleicht ist es die Ironie und der Sarkasmus?

Kristian: Doch auch, was das Grottenböse in den Texten betrifft, reitet Ableev wie ein schwarzer Ritter mit seinem rinnenden Mehl auf einer Rasierklinge via Romantik.

Armin: Haha, ja, der Schwarze Ritter ... lässt mich jetzt auch an Monthy Python’s denken, die alte, oft strapazierte Szene ... aber Ableev hat sehr viel Fortune und verliert nicht bei jedem Streich eine Extremität, er verliert eigentlich gar nichts. Und ja klar, die Rasierklinge sehe ich auch, es gibt eine Ebene darin, die messerscharf ist und die an Verachtung grenzt, könnte man meinen. Es gibt eigentlich kaum ein Wort, das nicht in irgendeiner Form hier eine Metamorphose erfährt, und somit sträubt sich das Buch auch vehement gegen jegliche Einordnung.
     Gleichzeitig ist es eine Art Finnegans Wake – man könnte es niemals ganz lesen oder zumindest nicht auf einen Satz durch, immer wieder Mal ein Stückchen; es ist intensiv, es ist sehr komplex. Und es hat sozusagen in jeder Minuskel eine politische Komponente.

“Je nun”-Partei / zieht am Gedächtnisstiefel. / Ist er an, / verkohlen wir den Jenpool.

Die Texte beschäftigen sich nicht nur mit Sprache, oder damit, wie sich diese modifizieren und aufbohren lässt. – Fast könnte man sagen, sie befassen sich (auf einer erst auf den zweiten Blick sichtbaren Schicht) zentral mit dem Judentum. Sie betreiben dazu erst einmal eine sehr erhebende und erheiternde Demontage von tumb-teutonischem Germanentum, vom Schweinebratenhorizont an verbranntem Grillfett.

Schwärzten abenteuerlich verrußte Kerle Nerven mittels Nichtsdenk-Nekrin bzw. Fanden odinstrahlenden Öhrlinge, Lindwurmartige und andere Schweinebraten Aufnahme??

Anschließend werden gleichzeitig die Klischees über das Judentum (“Der ewige Jude” u.a.) angesprochen und sofort desavouiert. Auf eine Art, die einen jüdischen Background auch bei dem Autor vermuten lässt. Und hier geht es jetzt darum, hinter die sehr verschmitzte Fassade dessen zu blicken, was hier vom Autor praktiziert wird: Es ist eine Auseinandersetzung mit jüdischen Lebenswelten und jüdischem Gedankengut; es wird sowohl von innen herausgeblickt, als auch von außen draufgeschaut, auf alle Klischees, die es um das Jüdische gibt. Man denke nur an das Matzemehl, das traditionsbewusste Juden beim Pessachfest zu sich nehmen. Das Ganze wirkt, ähnlich wie bei Breyger in manchen Texten, demaskierend und entlarvend.

Kristian: Breyger nennt sein geschliffenes Verfahren kryptomagisch - das würde ich für Ableev aber nicht anwenden bzw. die beiden Schreibstile miteinander vergleichen. Ableev ist nicht kryptisch, nicht hermetisch und auch nicht doppelmünzig, nicht verkappt. Er verfolgt Linien, die man nachvollziehen, wenn auch nicht bewerten kann. Weil er weiterstürmt. Er ist da ganz offen, nur eben mit dem Lachschalk und den fließenden Wortspielopferungen, die einen am eigenen Verstand beim Lesen zweifeln lassen. Und das ist der Mensch, und das sind seine Stärken, dieses Herunterziehen (zum Teil geistiger Partikel) und Gegeneinanderstellen (Breyger) oder teuflisch lachen und vielleicht auch husten (Ableev).

File this “Grüße” under F: Fruliche Weinagten und alles Gute euch - möge das neue Jahr jedem sein ganz spezifisches Gleitgel bescheren inkl. VG Wortspiel Parasitärgny curb my euthanasm, sonst Häufchen.

Armin: Das Buch ist komplex und eine eingehende Auseinandersetzung in jedem Fall wert. Es behandelt viele Themen, die man jedoch so nicht erwartet, es wirft Fragen auf, es ist hochironisch, tiefgründig, mehrschichtig und beschäftigt sich auch mit Inhalten, wo man normalerweise denkt, das ließe sich gar nicht mit Worten darstellen, was aber über die unzähligen Veränderungen an den Worten dennoch passiert.
      Immer werden auf diese Weise fast im Nebenbei die richtig heißen Eisen angefasst, wo man sich normalerweise gar nicht hintraut: Es karikiert und parodiert die IT-Welt, das Bankenwesen, den Kapitalmarkt u.v.m., es legt den Geschlechterrollendiskurs offen, es adressiert aus einem kämpferischen Atheismus heraus alle göttlichen Wesen. Es werden allerhand Diskurse mitsamt ihren inhärenten Tabus gestreift. Nach den anfangs aphorismusartigen Sentenzen, die man evtl. auch als Gedichte betrachten kann, folgen enger gesetzte prosaisch anmutende “Textflächen”. Im 6. Kapitel Gegen uns geübte Wunder findet sich folgender Absatz:

Zum anderen demonstrierte Leo seine zahlreichen Hypnosemethoden an den unterschiedlichsten Gegenständen, indem er gesunde Männchen dazu brachte, alle zehn bis zwölf Stunden "Antijos Stuhlgang Antihis!” zu brüllen, was laut Failxaver einer der Hauptgründe dafür ist, sie Seele unzerkaut zu schlucken. Denn besagtes Organ schützt uns Wenschen vor Wahnsinn und hindert uns daran, “Antiluis Rolle rot, Anti-Rolle anti Meise Avanti!” u. ä. zu grölen. (…) Seine Mutter war eine streunende Kastenmieze, sein Vater entstammte dem Geschlecht der Schmutzoren, einer alten, vulgären Scheißsippe aus Abphallhaußen. Überhaupt entstiegen jener Sippe Jahr für Jahr niedere Gase bis ein klingä Mann zitat: „Was am Ende übrig bleibt, ist die Freundschaft zum Konstanten. Konstanz aber ist Illusion ä.“ Aber wenn Sie es wirklich dringend wollen, können Sie sich an meinen afrikanischen Bloßstellungskoeffizienten wenden.

So gesehen ist es auch ein sehr mutiges Buch, das sich und uns jede Menge (zu)traut, und allein schon die “Darreichungsform” ist ungewöhnlich – genauso, wie die behandelten Themen. Eigens erwähnt werden sollten schließlich die Illustrationen, die ebenfalls von Daniel Ableev stammen und sehr eigene und eigenwillige, teils abstrakte, teils figurenhafte und fast immer organisch wirkende Strukturen bilden; schwarze (um nicht zu sagen) “surreale” Wesen, die immer ein Schlagwort oder mehrere Schlagworte innerhalb von Mustern und Chiffren in sich eingeschrieben tragen.


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