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Dalia Ravikovitch: Du erinnerst dich bestimmt

Gedichte > Gedichte der Woche

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Dalia Ravikovitch -
links Foto von Jachin Hirsch, 1963
re. Portrait (Acryl und Lack auf Leinwand)
von Yossi Waxman, 2017
Dalia Ravikovitch

Du erinnerst dich bestimmt

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer


Nachdem alle weg sind
bleib ich allein mit den Gedichten
teils sind die Gedichte von mir
teils von andern.
Gedichte, die andre geschrieben haben, lieb ich mehr.
Ich bleib im Stillen
und die erstickte Kehle atmet sich frei.
Ich bleib da.
Manchmal will ich, dass alle gehen.
Gedichte schreiben ist vielleicht was Schönes.
Du sitzt im Zimmer und alle Wände reichen immer höher.
Die Farben wirken kräftiger.
Ein blaues Tuch wird zum tiefen Brunnen.
Du willst, dass alle gehen.
Du weißt nicht, was los ist mit dir.
Vielleicht denkst du an zwei Dinge oder mehr.
Nachher geht alles vorbei und du wirst zum reinen Kristall.
Nachher Liebe.
Narziss liebte sich selbst so sehr.
Dummkopf, wer nicht begreift, er liebte auch den Bach.
Du sitzt für dich allein.
Dir tut das Herz weh, aber es bricht nicht.
Allmählich werden die verblassten Gestalten entfernt
nachher werden die Makel entfernt.
Nachher kommt um Mitternacht die Sonne raus
auch an die verschossenen Blumen erinnerst du dich.
Du wolltest, du wärst tot oder lebendig oder jemand anders.
Vielleicht gibt es ein Land, das du liebst.
Vielleicht gibt es ein Wort.
Du erinnerst dich bestimmt.
Dummkopf, wer die Sonne untergehen lässt, wie es ihr gefällt.
Sie wandert stets in aller Frühe schon westwärts zu den Inseln.
Zu dir kommen Sol und Luna, Sommer und Winter.
Unendliche Schätze.


Aus: Dalia Ravikovitch: „Hasefer haschlischi. Leyitzhak Livni” (Das dritte Buch. Für Yitzhak Livni), in: Kol haschirim ad ko (Aktuelle Gesamtausgabe der Gedichte), Tel Aviv: Hakibbutz Hameuchad 172008 [11995], S.115f.

Die deutsche Übersetzung wird mit freundlicher Genehmigung von Ido Kalir, dem Sohn der Dichterin veröffentlicht.

Das fotografische Porträt von Jachin Hirsch (1934-2011) stellt die Israelische Nationalbibliothek zur Verfügung:
Fotografien – Porträts, Dalia Ravikovitch, 1963, Verweisnummer PShHi-002-001-001-007, Siona Shimshi and Jachin Hirsch Archive, Center of Israeli Arts – The Faculty of Arts at Tel Aviv University.

Der Schriftsteller, bildende Künstler und Designer Yossi Waxman schuf ein Porträt von Dalia Ravikovitch (2017, Acyrl und Lackfarben auf Leinwand, 90 x 50 cm).
Es gehört zu der Reihe „Meschorerim weziporim acherot“ (Poets and Other Birds), die bedeutende Pioniere der modernhebräischen Kultur und Literatur in Form einer religiösen Ikone verewigt: Josef Chaim Brenner, Rachel (Bluwstein), Chaim Nachman Bialik, Avraham Schlonsky, Lea Goldberg, Zelda (als junge und reife Frau), Yona Wallach (als junge und reife Frau), Hezy Leskly, Dalia Ravikovitch und Hanoch Levin. Unter dem Titel „Tmunat Machsor“ (Class Picture) werden diese Gemälde derzeit im Janco-Dada Museum im Künstlerdorf Ein Hod in Israel ausgestellt (17.8.-15.10.2024).


Dalia Ravikovitch, geboren 1936 in Ramat Gan, gestorben 2005 in Tel Aviv, zählt zu den größten Dichter:innen der israelischen Moderne. In ihrem Hebräisch erklingt ein Akkord aus biblischer Feierlichkeit und alltäglicher Nähesprache, mit dem sie sowohl persönliche, psychische Krisen als auch widerständige, mitfühlende Aussagen zum israelisch-palästinensischen Konflikt artikuliert. 1998 erhielt sie den Israel-Preis für Dichtung; 2000 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Haifa verliehen. An der Hebräischen Universität in Jerusalem studierte sie bei Lea Goldberg, ihrerseits eine der bedeutendsten Dichter:innen der frühen modernhebräischen Literatur; erste Gedichte erschienen in den fünfziger Jahren in dem Literaturjournal „Orlogin“, das der Dichter Avraham Shlonsky herausgab. Dalia Ravikovitch arbeitete zudem als Journalistin, schrieb Kinderbücher und übersetze aus dem Englischen, u. a. W. B. Yeats und T. S. Eliot. Ihr Werk wurde in 23 Sprachen übersetzt. Auf Deutsch sind bisher einzig in dem Akzente-Heft (2/2011) Moderne hebräische Literatur, zusammengestellt von Ariel Hirschfeld und übersetzt von Anne Birkenhauer, vier weitere Gedichte von ihr zu lesen.

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