Dagur Hjartarson: Fünf Gedichte
Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island

Dagur
Hjartarson
Fünf Gedichte
aus: Schnee über den Buchstaben (enthält die Originale Heilaskurðaðgerðin / Die
Gehirn-operation (2017) und Fjölskyldulíf á jörðinni /
Familienleben auf der Erde (2020)
ELIF Verlag, Nettetal, Februar 2022)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
magnetresonanztomographie
bevor
du in das mrt-gerät
verschwindest
spritzt
man dir ein kontrastmittel in die vene
dann
wird alles in gang gesetzt
zuerst
ist ein klobiges dröhnen zu hören
dann
ein klopfen
dann
dröhnen und klopfen
so
als stecke jemand fest
in
dem ringförmigen gerät
und
möchte hinaus
aber
so ist es natürlich nicht
es
ist nur der ewige lärm
den
es mit sich bringt wenn man in den kern
eines
anderen menschen schaut
als
du dann herausschwebst
ist
es so als sei alles nur ein absurder witz gewesen
die
ergebnisse kommen später;
schwarz-weiße
fotografien
einer
zerbrechlichen landschaft
als ich dich
nach der operation sah I
als
ich dich nach der operation sah
–
es waren nur wenige minuten
nachdem
der arzt dir deine kopfhaut
zusammengenäht
hatte –
warst
du bleicher als die krankenhauswand
du
lagst dort mit morphin in den adern
und
dem entwurf eines lächelns auf den lippen
du
warst so schön
und
friedlich
wie
ein tiefes wasser
wie
aus einem märchen neu geboren
so
sah ich dich schlafen
ein
jahrhundert lang
und
als du endlich aufgewacht bist
nutztest
du die hälfte deiner kraft dazu
die
augen einen spalt weit zu öffnen
und
die andere hälfte um zu fragen
bin ich nicht süß?
schneeflockenstille
ich
starte die kaffeemaschine
wie
einen schneepflug
vor
der bergstraße
aus
weißem papier
suche
im schreiben trost
den
es auf der welt nicht gibt
immer
diese augenblicke
voll
von licht
das
der schneesturm über die hochebene treibt
voll
von glauben
der
die menschen dazu bringt dort ihr leben zu lassen
während
die kaffeemaschine vor sich hin schnurrt
erlaube
ich dem toaster sein wunder zu vollbringen
und
erinnere mich daran dass gedichte
auch
ein leiser versuch sein müssen
die
welt in brand zu setzen
spaziergang
mit kinderwagen
der
kinderwagen ist ein kleines boot
und
der schnee ist das meer
und
die schneewehen sind die wellen
und
die katzen die misstrauisch zwischen den wehen umherschleichen
sind
seekatzen
und
die pisse die sie im schnee hinterlassen
sind
gelbe sonnen
und
ich
der
ich das boot
über
das meer steuere
an
den misstrauischen seekatzen vorbei
durch
wellen durchflutet von sonnen die halb unter wasser stehn
ich
bin der kapitän
und
das mädchen
das
in dem boot schläft
ist
meine tochter
herbsttief
das
herbsttief kommt während der nacht
und
markiert den baum in unserem garten
mit
einer schwarzen plastiktüte
wie
um den weg wiederzufinden
und
es findet den weg wieder
schon
in der nächsten nacht
es
schreit etwas das keiner versteht
schmeißt
tang und algen aufs land
und
weitere geflügelte albträume
aus
der tiefe des Atlantischen Ozeans
am
nächsten morgen ist der strand
glänzend
schwarz
so
als hätte jemand versucht
den
weg zu asphaltieren
der
hinab in den abgrund führt
und
das ist es warum das herbsttief
draußen
vom meer kommt
es
ist die stimme derer
die
ihren wortschatz im wellengang verloren
wir
schauen auf die frisch asphaltierte straße
und
warten dass sie an land kommen
Dagur Hjartarson, geb. 1986 in Fáskrúðsfjörður an der Ostküste
Islands, lebt in Reykjavík. Für seinen ersten Gedichtband 2012 wurde er mit dem
Tómas-Guðmundsson-Poesie-Preis ausgezeichnet, 2016 wurde ihm der
Jón-úr-Vör-Poesiestab zuerkannt. Letzte Buch-publikationen: Heilaskurðaðgerðin / Die Hirnoperation, Gedichte, Reykjavík 2017, Við erum ekki morðingjar /
Wir sind keine Mörder, Roman, Reykjavík 2019, Fjölskyldulíf
á jörðinni / Familienleben auf der Erde, Gedichte, Reykjavík 2020, Ljósagangur
/ Lichtgetümmel, Science-Fiction-Roman, Reykjavík 2021.
Der
Lyrikband Schnee über den Buchstaben enthält Gedichte, die im
islän-dischen Original in zwei getrennten Bänden und in einem Abstand von drei
Jahren erschienen sind. Doch sie
verhalten sich zueinander wie Geschwister, ein jüngeres und ein etwas älteres.
Und in beiden steht, ausgehend von persönlichen Erfahrungen des Originalautors,
das Zusammenleben, steht die Familie im Zentrum des poetischen Denkens, um das
Trabanten gleich die Geschehnisse der Welt zu kreisen beginnen.
Lässt in die hirnoperation noch
die Sorge um den geliebten Menschen die Tage in einem zerbrechlichen
Gleichgewicht erscheinen, begegnen sich in ruhigen, aufrichtigen Bildern Trauer
und Hoffnung, Freude, Liebe und Tod, so wendet sich familienleben auf der
erde unmittelbar dem Leben im Alltag zu: Ein Mann wird zum zweiten Mal
Vater. Er schreibt über das Leben, das neu entsteht, und über Arten, die
aussterben, schreibt über seine Kinder, seine Eltern, über Kinderwagen und
Schnuller und das Klima. Er schreibt Gedichte über das Familienleben auf der
Erde.
Dagur Hjartarsons Gedichte sind persönlich,
klar und stark in ihrer Einfachheit, voller Wärme für alles, was die Welt
bereithält, und voller Sorge über das, was der Mensch ihr an Verstörendem,
Vernichtendem antut. Oft lassen sie uns erstaunen, öfter noch hinterlassen sie
Wunden, die uns an unsere eigene Verletzlichkeit erinnern und an unsere
Fehlbarkeit gemahnen. Verortet in Island und im dortigen gesellschaftlichen
Diskurs, sich hin und wieder auch auf klassische isländische Dichtung beziehend,
ist der Blick, den die Texte auf die Welt einnehmen, universell.
