Christoph Szalay: RÆNDERN
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Timo
Brandt
Christoph
Szalay: RÆNDERN. Klagenfurt (Ritter Verlag) 2020. 100
Seiten. 13,90 Euro.
Unser loses (Be)Heimaten
„liegst nachts in den Lichtern einer Landschaftnennst Heimat was du vor dir siehst anausschweifenden Gräsern – harmonisches Rüstzeugfür das was gekommen sein mag“
„Heimat“, so heißt es beim Spötteler Heine, „das ist ein chronisches
Gefühl“. Von da ist es nicht weit zu komisch, polemisch, populistisch,
höhnisch, etc. Aber bleiben wir bei chronisch, denn das ist gar kein so
schlechtes Wort, enthält es doch die fortlaufende Benennung, Verzeichnung und
evoziert außerdem Dinge wie Gebrechen und Schmerz.
Heimat, das ist ein Begriff, der eingetaucht und
emporgehoben scheint aus Heilsein, Stolz und Glanz, der aber vor allem lange
Schatten wirft. Diese Schatten stammen von den größeren Zusammenhängen, in
denen er steht; er ist nicht nur ein Wort, er ist ein Kampfbegriff, ein Herrschaftsanspruch,
eine Zuschreibung, Aneignung, Abgrenzung, Aufwertung – ein „weites Feld“, wie
es bei Fontane heißt.
Von der Heimat kommt man aber auch nicht los – in der
Hinwendung zu ihr kommen so unterschiedliche Geister wie der an der Heimat aus
der Ferne krankende jüdische Dichter Heine und der seine Heimat durchwandernde latente
Antisemit und Preußenchronist Fontane zusammen. Und nicht zusammen.
„Fichten Lärchen Zirben Ahorn Eschenin Säumen hier bis an die Felswände genähtgehst du in die Wälder braucht es einen Wegum wieder herauszufinden suchst du nachins Holz gezogenen Gassen Markierungenan den Rinden der Bäume orientierst du dichin Verlauf und Richtung ein Gang durch Historienübern Bergkamm entlang geschert findest duEinschüsse eine Lichtung die sich nicht schließen lässt“
Auch in Christoph Szalays Buch „RÆNDERN“ geht es um Heimat.
Um den Komplex Heimat, um die Geschichte Heimat, aber vor allem um den Ort
Heimat. Diese Landschaft, Gegend, in der sich etwas befindet, das nicht nur
Erinnerung ist, sondern eine bestimmte Form von Orientierung enthalten soll.
Aber was ist das eigentlich da draußen? Wir finden uns in
einer Landschaft wieder – und was finden wir da? Zunächst einmal: Natur, meist
partiert, praktizierbar. Wälder mit Wegen, von Straßen durchzogene Felder, Flüsse,
dazwischen Standorte, Stellen, Stellungen. Heimat, das ist auch ein Ort des Standhaltens, eine Welt, die
standhält. Den Veränderungen, den Widernissen, wie die Menschen, die dort leben,
schon immer so und weiter so, in einer Ordnung, die alles zusammenhält, was
zählt.
„den genickten Waldbodenwieder glattstreichen zurechtrückengeraderichten im ersten Frühlingsapellwarten bis der Wind die Wälder stilllegt“
Manche Rezensionen können das Portrait eines Buches liefern,
manche jedoch nur einen Umriss. Und eben weil nicht nur die Materie Heimat
komplex ist, sondern auch die Art, wie Szalay sie behandelt, wie er sie
herausfordert, mixt und mit Remixen durchsetzt, kann ich in dieser Rezension
wohl nur letzteres liefern: den Versuch, ein paar Themen aufzugreifen, zu
streifen, die Szalay interpretiert, touchiert, imaginiert, zitiert.
Vielleicht noch mal zurück zum Titel, der ja neben den
Rändern auch das Rendern enthält. Bei diesem Vorgang macht ein Computer aus
einem mathematischen Bauplan/einer Matrix ein dimensionales Objekt mit Textur.
Aus einer Abstraktion wird eine Darstellung. Von hier aus könnte man viele
Fährten verfolgen und z.B. auch die fortschreitende Digitalisierung (und mit
ihr das ganze Internet) und die damit einhergehende Veränderung des räumlichen
Denkens, der Idee von Grenzen ins Boot holen. (Was macht es mit der Idee
Heimat, wenn ich mir Bilder jeder Landschaft herunterladen kann, wenn ich in
Walking-Simulatoren darin herum gehen kann?)
In jedem Fall ist Heimat als Begriff zwar ein Prinzip, aber
sie braucht eine Textur, um greifbar, begehbar zu werden. Und hier, zwischen
Prinzip und Textur geschieht einiges, dem auch Szalay in seinen Texten
nachgeht. Denn was ist das Prinzip? Welche Daten werden beim Rendering
unterschlagen, tauchen in den Rechnungen auf, zeigen sich aber nicht im/am
Objekt, scheinen nicht in der Textur auf, der Landschaft.
Es geht also auch darum, Heimat, diese aus der Luft
gegriffene Behauptung/Zuschreibung, aus der Luft zu greifen und zu erden. Sie
zu beschweren, nicht nur mit Definitionen, sondern auch mit Konstruktionen, die
dahinter stehen, die den Begriff tragen oder von ihm getragen werden.
„Heimsuchung nennst du dasHinkommen über die Hängedie Schneisen die schlugennoch die Väter in den Waldim mund trägst du ein dorfVoll mit Vorübergegangenem“
Eine solche Auseinandersetzung, kleinteilig, wie Szalay sie
vornimmt, läuft natürlich vor allem auf Irritationen hinaus. Was trennt
Landschaft und Natur? Wie können wir etwas Landschaft der Heimat nennen, das im
Prinzip am Rande des menschlichen Lebens steht, nicht in es hineingeraten darf,
Kulisse bleiben muss, obgleich der Mensch doch behauptet, Teil davon zu sein?
Bei Thoreau in den Tagebüchern heißt es einmal: „Natur
konserviert im Gegensatz zu Landschaften keine Ansprüche, allerhöchstens
Wunden.“ Was liegt unter der Heimat, was war und ist der Preis für den
Harmoniebestand, der in der Heimat verortet wird? Denn der Naturbestand der
Heimat ist dem Menschen ja immer zweierlei: Rohstoff zum einen, Harmoniequell
zum anderen.
„vom Sommer, schreibst du, der in die Landschaft einfällt undabgebrannte Felder zurücklässt. schreibst sag nicht Liebe, Schuld,Erinnerung. sag, was passiert. […] nimm dich aus den Umgebungen raus“
In den vielen Formen, die die Auseinandersetzung in dem Buch
annimmt, sticht ein Merkmal heraus: das der direkten Ansprache. „Sag“ ist eine
der häufigsten Wendungen: die Aufforderung, sich zu äußern, sich aus der tiefen
Gewissheit, die mit feststehenden Begriffen verbunden ist, heraus zu begeben,
heraufzusteigen zu den Dingen, aus denen die Begriffe gebaut werden, sie
wirklich zu sehen, ein bisschen wie im Höhlengleichnis von Platon.
„das Zirpen der Grillen verrät dir etwas über dieSchreibung einer Szene, in der du fragst, woher kommt dieseUnruhe, wann ist das alles Grenzland gewesen, hat man Gleiseverlegt, Straßen gebaut, einen Weg geebnet.“
Worein passt Landschaft? In einen Begriff Heimat? Ins Auge?
In Formen, Gegenstände, die man daraus baut? In Geschichten? Wie kann man
Herkunft behandeln? Szalay geht und spürt diesen und vielen anderen Fragen
nach. Er umkreist sie und er schlägt Breschen hinein. Er formuliert an ihnen
entlang die Realien, von denen aus man in die Tiefen und Höhen des
Begrifflichen ganz anders blicken muss: mit dem Kopf in den Nacken oder dem
Kinn an der Brust. Manches verdichtet sich dort:
Heimat, das wird viel zu oft propagiert als eine
Erinnerungseinheit, kein Erinnerungskosmos.
Heimat, darin klingt Recht an, Herrschaft.
Heimat, das klingt nach dem Leugnen der Veränderung, der
alles unterworfen ist.
Heimat, daran kommt nicht vorbei, wer Kind war, wer irgendwo
aufgewachsen ist, die tiefsten Erinnerungen verbunden weiß mit einem Flecken
Erde.
„RÆNDERN“, das ist eine wirklich beeindruckende
Auseinandersetzung mit einem einschüch-ternden Themenkomplex (und ist dies noch
viel umfangreicher, als ich es hier darstellen kann). Ich gebe zu, ich tat mich
etwas schwer mit dem letzten Teil des Buches, in dem Szalays herangezogene
Zitate aus Weltliteratur, Rap und Gegenwartsdiskursen etwas überhandnehmen (in
meinen Augen, andere könnten dies mit gleichem Recht begrüßen), aber gerade in
diesem letzten Teil ist er wohl auch nah dran an einer neuen Form, von der wir
alle vielleicht eines Tages profitieren können, einer Form in der die Vielschichtigkeit/das
Wesen der Begriffe nicht nur breitgetreten wird, sondern simultan dargestellt, auf
verschiedenen Ebenen gleichzeitig begreiflich gemacht werden kann. Insofern:
„RÆNDERN“ sollte uns alle mal ein paar Stunden beschäftigen.
„Nachdenken über Rollen und Richtungen alles wasdu Wegbiegung nennst Flussverlauf Vaterland Erinnerung“