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Christoph Georg Rohrbach: O. Gedichte

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Tobias Roth


Ostwärts, unnummeriert



Die zehn Gedichte des in der Parasitenpresse erschienenen Zyklus „O.“, den der Greifswalder Lyriker Christoph Georg Rohrbach soeben als Debut vorgelegt hat, wenden sich einer Geographie zu und formieren einen Vektor. Die Titel der Gedichte sind Ortsnamen, deren Verlauf eine Bewegung in Szene setzt und fortschreiten lässt; nur zwei Gedichte „spielen“ am selben Ort, in Krakau. Ausgehend von Bezdez, nördlich von Prag, vollziehen die Titel eine flussartig mäandernde, aber grundsätzlich stringente Linie Richtung Osten, die bis tief nach Polen hinein führt; der Übergang von Tschechien nach Polen wird durch mehrere Orte markiert und auch im Vers explizit gemacht. In diesem Sinne könnte man den knappen Titel des Bandes „O.“ gut und gerne als Abkürzung für „Osten“ begreifen – aber so einfach ist es nicht. Der abkürzende Punkt nach dem Vokal verunsichert diese Zuweisung und auch in den Namen herrscht Komplikation, insofern sie die Vielsprachigkeit der historischen Landschaft in sich aufnehmen und so Mehrdeutigkeiten freisetzen.

Auch in den Gedichten selbst geht es nicht nur um eine Bewegung im Raum, schon gar nicht um die Beschreibung einer Reiseroute, vielmehr wird die Beschreibung selbst einer genauen Beschreibung unterzogen, ihre Sprache wird von feinen, analytischen Schnitten durchzogen.
Was die stillen, aber dennoch von einer nachdrücklichen Sinnlichkeit geprägten Gedichte auszeichnet und die Antennen des Lyriklesers sogleich freudig zucken lässt, ist eine intensive Arbeit an und mit einzelnen Worten, die sich aus dem Kontext ihrer beschreibenden Funktion entwickelt. Es ist ein kurzer Band mit zehn kurzen Texten: umso mehr Gewicht und Raum erhalten die einzelnen Elemente. Die Worte können sich als Termini erproben, als Begriffe ausstrecken, als Namen schillern, in ihrer Mehrsprachigkeit Problembewusstsein auf die Szene führen.

Rohrbach fährt beispielsweise eine feine Ausbeute kunsthistorischen Vokabulars ein, das seine eigentümliche metaphorische Drift freisetzt – so taucht etwa plötzlich in den Versen „und mit gotischer Leichtigkeit verschleiert / maßwerk fein das gänzliche fehlen decken / tragender pfeiler“ der Terminus des Schleiermaßwerks auf und erweist seine uneigentliche Ladung; zugleich ist Schleiermaßwerk, als Terminus, charakterisiert durch das freie Schweben des Maßwerks vor einer Wandfläche und drückt so erneut die vermeintliche architektonische Haltlosigkeit aus, wie der Vers in dem der Terminus impliziert wird – während es sich doch um fest gefügte Einheiten handelt. Rohrbach vollführt eine genaue Arbeit an Beständen, die sprachliche Oberfläche der Gedichte bleibt in ihrer Eigenständigkeit unberührt und unaufgeregt. Ebenso unaufgeregt aber treten neben das Maßwerk, das seit Jahrhunderten nicht mehr verbaut wird, Begrifflichkeiten der digitalen Welt und des Internets – mit genau der Selbstverständlichkeit, die sie tatsächlich besitzen.

Gegen Ende des Zyklus häufen sich poetologische Einlassungen, indem Begriffe der Poetik einfließen und dem Bestand der Zeilen durch Durchstreichungen zu Leibe gerückt wird, ihre Materialität zuallererst betont. Dies geschieht im Gedicht „Neuerung, die“. Die Streichungen überwiegen. In die Konkursmasse des Gestrichenen fallen auch klare Formeln, die so seltsam zurückgenommen erscheinen, zurückgehalten, in Schutz genommen vor einem unbekannten Außen. Die schöne Fügung „dieses geformte ich, / die elegische sucht“ beispielsweise erscheint getilgt, obwohl sie natürlich sichtbar bleibt. Aber wieso die Formel herabdimmen und in einen anderen Textzustand versetzen? Elegische Sucht, elegische Arbeit (offenbar im Weimaraner Sinn, nicht im klassischen) muss sich nicht zurückhalten, weder von der Sache her, noch vom Wortmaterial, das Staunen, die Beschreibung des Verlaufs, der Rostschichten, wenn sie mit dieser Feinfühligkeit vollführt werden. Diese Arbeit ist nötig. Hier hätte man dem Zyklus mehr Schub und mehr Durchschlagskraft gewünscht, sich einzulassen auf seine Faszinationen – denn das adäquate Seziermesser steht Rohrbach ohne Zweifel zu Gebote. „O.“, der Titel, kann schließlich auch der Einwortsatz des Staunenden sein – der wichtig ist und nötig, unausgelaugt und aktuell wie Wasser und Blattgrün aktuell sind. (O!)

Dass der Zyklus sich in diesem Sinne eine Sehnsucht zu entwerfen scheint, die er sich nicht einlösen will, deutet sich im letzten Gedicht „wieliczka. Abgesang ohne Stollen“ an. „ich bin unter bunden“ eröffnet das Gedicht, während zugleich das lyrische Ich hier deutlich hervortritt wie sonst kaum im Band. Hier fallen viele Potentiale des Bandes zusammen: Landschaft und Wort werden überblendet, Landschaft wird Gegenstand der Reflexion als Zeit. Zugleich kommt in dem Text, im beständigen poetologischen Schlagschatten des Stollens, eine Sehnsucht nach einem Eindruck des Ausdrucks, eines Ausbruchs von Klarheit zur Sprache, die einen nicht zu unterschätzenden Anspruch formuliert und, am Ende des Bandes, nach außen trägt. „unter tage gibt es seen / bei all den unter schichten; / schacht zu; mir fehlt der mond: / ich tunke die scheibe ein, ins klare“.

Man kann sich mit diesem Band, mit diesem Gedicht zumal, freudig zu schaffen machen, nicht zuletzt, weil er unaufgeregt und in seiner Performanz Beobachtungsmodi und Schreibweisen einfordert – und in diesem Anspruch, so scheint es mir zumindest, auch ein Desiderat sich selbst gegenüber formuliert. Wenn man dies auch wahrzunehmen glaubt, so bleiben doch aus dem Leser Desiderate sich selbst gegenüber, spürbare Reserven, in Fragen, in Vermutungen. Ob der Band etwa auch etwas mit Kleists Marquise zu tun hat? Und ob deren berühmte Leerstelle Teil der Reflexion über Beschreibung und wörtliches Fassungsvermögen ist?


Christoph Georg Rohrbach: O. Gedichte. Köln (parasitenpresse - Lyrikreihe #036) 2016. 14 Seiten. 6,00 Euro.

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