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Christiane Kiesow: Marx' satanische Gedichte

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Christiane Kiesow

MARX‘ SATANISCHE GEDICHTE
Oder: Lyrikkritik und Verschwörungstheorie


Dass Marx im zarten Alter von 18 Jahren Gedichte geschrieben hat, wissen wahrscheinlich die wenigsten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn „Marx war als Dichter hochgradig epigonal. Er blieb ganz und gar befangen in den abgenutzten literarischen Moden seiner Epoche.“¹
    Auch sein Wikipedia-Eintrag weiß Marx zwar als Philosophen, Ökonomen,  Gesellschafts-theoretiker, politischen Journalisten und Protagonisten der Arbeiterbewegung zu würdigen – aber die Auszeichnung „Dichter“ fehlt. Seine Jugendlyrik hat es also nicht in unser kollektives Gedächtnis geschafft. Vielleicht wäre sie noch für ein paar Nerds in der Literaturwissenschaft zu retten gewesen, wenn Marx dazu auch eine eigene Poetik formuliert hätte. Laut Hans Magnus Enzensberger hat er sich aber zum Glück nie ausführlich über Poesie geäußert: „Was uns dadurch erspart geblieben ist, läßt sich nur mutmaßen.“² So blieb die Lyrik wohl auch dem institutionellen Kanon fremd. Wer sich dennoch für Marx‘ Gedichte interessiert, kann sie online in entsprechenden Datenbanken finden oder auf eine analoge Papierversion aus dem Svato-Verlag zurückgreifen. Zu seinem zweihundertjährigen Geburtstagsjubiläum vor drei Jahren³ hatte der Verlag, der auf die kunstvolle Gestaltung von Buchgraphiken spezialisiert ist, einen Band publiziert.

(c) Svato-Verlag

Ich wusste lange Zeit auch nichts von dieser frühen lyrischen Schaffensphase. Aber im Zuge der aktuell wieder geführten Debatte um das Thema Lyrikkritik habe ich mich verstärkt mit der Vielfalt von Rezensionsformaten befasst - (Hätten Sie gewusst, dass im 18. Jahrhundert, als sich die Literaturkritik, wie wir sie heute kennen, zu formieren begann, – dass da Fortsetzungs-rezensionen eine gängige Praxis waren? Ähnlich wie bei Forsetzungsromanen musste sich die Leser_innenschaft also öfter bis zur nächsten Ausgabe einer Zeitschrift gedulden, um eine Kritik zu Ende lesen zu können. Die bekannte Kritik von Schiller an Bürgers Gedichten z.B. ist dem Publikum häppchenweise serviert worden!) - und dabei ist mir eine herrlich kuriose Besprechung von Marx‘ Gedichten in die Hände gefallen.


Das andere Gesicht des Karl Marx

Richard Wurmbrand hat 1987 eine „Lyrikkritik“ vorgelegt, die durch die Interpretation von Marx‘
Gedichten den Beweis führen soll, dass »die geschichtlichen Urheber und Träger [des Marxismus] heimlich Teufelsverehrer waren«. Er schrieb demnach eine Lyrikkritik, die zugleich Verschwörungstheorie ist – über einen Autor, dessen Gedichte niemand liest – als feuilletonfremder Kritiker. Damit fällt seine Besprechung völlig aus dem Rahmen jener unausgesprochenen Standards, die heute für Lyrikkritik meistens Anwendung finden.

Wurmbrand († 2001) war Pfarrer, gründete die Hilfsaktion Märtyrerkirche und zählte noch 2006 zu den 100 berühmtesten Rumänen. Von ihm stammen Publikationen mit Titeln wie „Kleine Noten, die sich mögen“, „Das Lied der Liebe“, und „Aus dem Munde der Kinder“, aber auch Buchtitel wie „Jesus, Freund der Terroristen“ und „Das blutbeschmutzte Evangelium“. Die Generalpolemik gegen Marx, die neben anderem auch die Lyrikkritik enthält, ist bei der Stephanus Edition erschienen und heißt: „Das andere Gesicht des Karl Marx“. Schon das Buchcover lädt zum Schmunzeln ein. Das Konterfei von Marx ist in zwei Teile zerbrochen und suggeriert somit dissoziative Identitätsstörung. Um den Kopf herum sind rote (!) Kreise als Sinnbild für die wellenartige Ausbreitung der Gedanken von Marx gezeichnet. Einem Kommentar auf Amazon lässt sich entnehmen, dass die Aufmachung ihre Wirkung entfalten konnte. Da schreibt jemand, „Von Marx gehen meiner Meinung nach keine guten Strahlungen aus.“


Dass die „Besprechung“ in einem größeren Text eingeflochten ist, widerspricht ebenfalls den aktuellen Standards der Lyrikkritik, in der Rezensionen vorrangig als singulare, abgeschlossene Texte produziert werden.


Ein paar Kostproben!

Doch wie werden die Gedichte von Marx nun besprochen? Eine erste Kostprobe:

»...hören Sie sich zuerst das seltsame Geständnis an, das Marx in seinem Gedicht ›Der Spielmann‹ ablegt:

›Was, was! Ich stech', stech' ohne Fehle
Blutschwarz den Säbel in deine Seele,
Gott kennt sie nicht, Gott ach't nicht die Kunst,
Die stieß in den Kopf aus Höllendunst,
Bis das Hirn vernarrt, bis das Herz verwandelt,
Die hab' ich lebendig vom Schwarzen erhandelt!
Der schlägt mir den Takt, der kreidet die Zeichen...‹

Diese Zeilen werden bedeutungsvoll, wenn man weiß, daß in den Ritualen der höheren Weihe im Teufelskult dem Kandidaten ein verzaubertes Schwert verkauft wird, das Erfolg zusichert. Er bezahlt dafür, indem er mit Blut aus seinen Adern einen Schwur unterschreibt, daß seine Seele nach dem Tod dem Teufel gehören wird. Um Gedichte wie dieses besser verständlich zu machen, muß ich erwähnen, daß ›Die satanische Bibel‹ Satan ›den unaussprechlichen Fürsten der Finsternis, der die Erde beherrscht‹ nennt, nachdem sie sagt, daß ›das Kruzifix blasse Unfähigkeit, die an einem Baum hängt, symbolisiert‹.«

Wurmbrand zieht hier rhetorisch alle Register. Um seine Verschwörungstheorie plausibel zu machen, wählt er aus der Ballade von Marx einen Ausschnitt, der sich besonders düster ausnimmt. Er verschweigt seinem Lesepublikum jedoch, dass es sich dabei um die Figurenrede einer von zwei miteinander agierenden Figuren handelt, nämlich der eines Spielmanns. Die dem Straßenmusiker konträr entgegengesetze Figur kommentiert entsetzt: »Spielmann, Spielmann, was streichst Du so sehr,/ Spielmann, was blickst Du so wild umher?/ Was springt das Blut, was kreist's in Wogen?/ Zerreiß't Dir ja deinen Bogen.« Indem er diesen Teil des Gedichtes unterschlägt, muss Wurmbrand seinen eigentlichen Zug, nämlich die Gleichsetzung der Äußerungen des Spielmanns mit der Geisteshaltung des Autors, weniger vor seinem Lesepublikum rechtfertigen. Das Ganze wird komplettiert durch die als Hilfsangebot formulierte Behauptung, erst mit Spezialwissen könne man die Bedeutung dieses Gedichts richtig erschließen. Nur Interpret_innen mit einer Expertise wie der seinen könnten den Gehalt des Textes vollkommen ergründen, so suggeriert er. Das Bibelzitat dient dabei der Selbstautorisierung.

Auch am Gedicht „Des Verzweifelnden Gebet“ demonstriert Wurmbrand auffällig seine ‚Bibelfestigkeit‘:

» ›Einen Thron will ich mir auferbauen,
kalt und riesig soll sein Gipfel sein,
sein Bollwerk sei ihm übermenschlich Grauen,
und sein Marschal sei die düst‘re Pein!
Wer mit gesundem Auge darauf sieht,
soll tödlich blaß und stumm sich wenden,
von blinder, kalter Sterblichkeit ergriffen,
soll das Glück sein Grab bereiten.‹

[…] Die Worte ›Ich möchte mir einen Thron errichten‹ und das Bekenntnis, daß von dem, der auf diesem Thron sitzt, nur Furcht und Leid kommen, erinnern an die überhebliche Prahlerei Luzifers: ›Ich will in den Himmel steigen und meinen Stuhl über Sterne Gottes erhöhen‹ (Jesaja 14,13).«

Ebenso verfährt er mit einem Ausschnit aus „Oulanem“:

»Es ist bemerkenswert, daß Ewigkeit für Teufel ›Qual‹ bedeutet. Und so wurde auch Jesus von den Dämonen gefragt: ›Bist du hergekommen, um uns vor der Zeit zu quälen?‹ (Matth. 8,29) Ebenso bei Marx:

›Ha, Ewigkeit! Das ist ein ewiger Schmerz,
ein unaussprechlich unermeßlich Tod!
Schnöd‘ Kunstwerk, blindmechanisch aufgezogen,
des Zeitenraums Kalendernarr zu sein,
zu sein, damit doch irgendwas geschieht,
zerfall‘n, damit doch irgendwas zerfällt!‹ «

Als nächstes widmet sich Wurmbrand dem Schreibstil von Marx. Die Wahl der Stilmittel deutet er als versteckten Hinweis auf die Gottesferne des Autors:

»Es ist bezeichnend, daß es sich bei Oulanem um eine Verdrehung eines heiligen Namens handelt: es ist ein Anagramm von Emanuel, einem biblischen Namen für Jesus, was auf hebräisch ›Gott mit uns‹ bedeutet. Solche Namensverdrehungen werden in der Schwarzen Magie für wirksam gehalten. […] Diese Verdrehungen waren so in Marx' Denkweise verankert, daß er sie überall anwandte. Er beantwortete Proudhons Buch ›Die Philosophie des Elends‹ mit einem anderen: ›Das Elend der Philosophie‹. Darin schrieb er: ›Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffe nicht ersetzen.‹ […] Marx wendet diese Technik an vielen Stellen an. Er hat das, was man als typisch satanischen Stil bezeichnen könnte.«


Das Totschlagargument

Aber es wird noch besser:

»Hitler war auch ein Dichter. Man kann davon ausgehen, daß er die Gedichte von Marx niemals gelesen hatte, die Ähnlichkeit ist jedoch frappierend. Er erwähnt in seinen Gedichten dieselben satanischen Praktiken. Ich zitiere eines davon:

›In rauhen Nächten geh ich zuweilen
Zur Eiche Wotans in den stillen Garten,
Einen Pakt mit den finsteren Mächten zu schließen.
Das Mondlicht läßt die Runen erscheinen.
Die am Tage im Sonnenlicht badeten
Werden klein vor dem magischen Spruch‹ «

Ein Hitlervergleich! Mit verstecktem Behauptungs-Dreierhopp. Denn irgendwie müsste man gleich mehrere Annahmen durchwinken. Erstens: Das Gedicht mit dem germanischen Mythologie-Vokabular Hitlers sei satanisch. Zweitens: Hitler hat viel Leid bewirkt, deshalb müsse er Satanist gewesen sein. Drittens: Hitlers Gedicht ähnele Marx‘ Gedichten. Also ist auch Marx überführt, böse, d.h. satanistisch zu sein? Ganz schön abenteuerlich.

Wurmbrand formuliert seine biographische Lesart der Gedichte noch einmal aus:

»Wir fangen an zu verstehen, was mit dem jungen Marx geschehen ist. Er hatte christliche Überzeugungen, aber kein Glaubensleben. [...] Dann kam er offensichtlich mit der geheimen Teufelsgemeinde in Berührung und empfing die Riten der Weihe. Satan, den seine Verehrer in halluzinatorischen Orgien sehen, spricht durch sie. So wird Marx nun zum Sprachrohr des Teufels, wenn er in seinem Gedicht ›Des Verzweifelnden Gebet‹ die Worte ausspricht: ›Ich will mich an dem Einen rächen, /der dort oben herrscht.‹ «

… und beschließt seine Lektüre mit einem klaren Werturteil:

»Marx [...] Gedichte [...] sind wichtig, weil sie den Zustand seines Herzens offenbaren, aber literarisch gesehen fehlt ihnen jeder Wert.«


Und nun?

In einer Welt, in der auch Anne Frank-Fanfiktion existiert, lässt sich der Text natürlich als merkwürdiges „Crossover“ zweier völlig verschiedener Textsorten lesen: Verschwörungs-theorie und Gedichtbesprechung werden hier miteinander verwoben. Ich möchte aber dazu einladen, den Text stattdessen als überdrehte Version einer gängigen Diskurspraxis im Bereich der Lyrikkritik zu lesen. Denn bei genauem Hinsehen reproduziert der Text von Wurmbrand eigentlich typische Grundzüge von Gedichtbesprechungen. Mit der psychologisierenden, biographischen Lektüreweise, mit der Behauptung von Deutungshoheit seitens des Kritikers, mit der Wiederholung des Unzugänglichkeitsnarrativs bei Gedichten, mit der demonstrativen Bekundung von Belesenheit des Kritikers, mit dem Vergleich der Gedichte mit denen anderer ‚bekannter Autoren‘ und dem Feststellen von Gemeinsamkeiten, die aber als Argument gegen den Dichter herhalten müssen, mit dem kurzen Ausflug in so etwas wie eine Stilanalyse, mit der Geschlechtsdimension „Männlicher Kritiker bespricht männlichen Autor“, bishin zum abschließenden ‚Qualitätsurteil‘ - entspricht diese Kritik vielen gängigen hermeneutischen Besprechungen - auch heute noch. Man könnte sie geradezu als ungewollte Parodie dieser Diskurspraxis lesen.

Außerdem würde die Crossover-Theorie nur funktionieren, wenn man von einer deutlichen Verschiedenheit im Herstellungsprozess von Lyrikkritik und Verschwörungstheorie ausgeht. Aber vielleicht gibt es ungeahnte Gemeinsamkeiten zwischen dem Basteln der einen und dem Herstellen der anderen? Vielleicht liegen sie im ‚Ästhetischen Aha‘-Effekt, ein Schlagwort aus der Psychologie:

„In empirischen Wahrnehmungsstudien untersuchten Muth und Carbon, inwiefern [...] selbst generierte Einsichten Vergnügen bereiten. Als Ästhetisches Aha! [...] bezeichnet man den entsprechenden Effekt, dass das Erschaffen von Bedeutung selbst Vergnügen bereitet. [...] Hierbei geht es nicht darum, dass diese Bedeutung tatsächlich zutrifft [...] Sie muss nicht einmal Komplexität reduzieren und Vorhersagefehler gänzlich auflösen, um belohnend zu sein. Beispielsweise bat man Probandinnen und Probanden, ein Schwarz-Weiß-Muster mehrmals zu bewerten. Entdeckten sie das darin versteckte Gesicht, stieg das Gefallen an dem Bild signifikant an. […] Wichtig scheint hierbei eine anfängliche Herausforderung beim Finden der Gestalt zu sein“

Könnte da etwas dran sein? Oder ist das vielleicht doch nur eine an den Haaren herbei gezogene wilde Theorie, bei der jemand glaubt, einen verborgenen Zusammenhang entdeckt zu haben? Entscheiden Sie.


¹   Schreibt Uwe Wittstock in der FAZ.
Link: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/frankfurteranthologie/frankfurter-anthologie-karl-marx-menschenleben-15053862.html
²  Vgl: Hans Magnus Enzensberger: Poesie und Politik (1962) In: „Einzelheiten II. Poesie und Politik“, Suhrkamp
Verlag: Frankfurt am Main 1964.
³  Jubiläen zu feiern ist wohl die bürokratischste Form der Erinnerungskultur. Es gibt klar einzuhaltende Fristen und viel Papierkram drumrum (Zeitungsartikel, Plakate für Gedenkfeiern, Neuauflagen verstaubter Schinken, Reden müssen geschrieben werden ...). Daher in Deutschland auch sehr beliebt. Man kann den Svato-Verlag also auch ein bisschen verstehen. Den Logiken des Buchmarkts entsprechend werden Jubiläen immer für autor_innenbezogene Publikationen genutzt. Für Indieverlage ergibt sich dann das naheliegende Problem, dass sich eine Neuauflage von Marx‘ Hauptwerken nicht lohnt. Einerseits besetzen die Großverlage schon dieses Feld und andererseits kann sich jede_r Leser_in, die es nicht so genau nimmt, für wenig Geld in Antiquariaten mit gekürzten Versionen aus der DDR versorgen. Was bleibt dann übrig?
Im Haus für Poesie hat von 2018 bis 2020 unter der Leitung von Hendrik Jackson eine „Akademie zur Lyrikkritik“ stattgefunden. Das angestrebte Ziel war es, in kleinen Arbeitsgruppen „zeitgenössische Kriterien und Methoden zur Kritik des vielschichtigen Genres Lyrik zu entwickeln“, und im schlegelschen bzw. neuromantischen Sinne „Kritiken beispielhaft zu erstellen, die dem Begriff, Kritik zu sein, im besten Sinne gerecht werden und darin selbst Kunstwerk sind.“ Dazu wurden von den Teilnehmer_innen kleine Impulsvorträge im Pecha Kucha Format erstellt. Beiträge wie die von Christina Rossi zu Kindergedichtbänden oder Martina Hefters unkonventioneller Vergleich zwischen Bram Stokers Roman Dracula und Steffen Popps Gedichtband „118“ lassen das Herz höher schlagen. Mittlerweile gibt es eine Fortsetzung des Projekts. Link: https://www.lyrikkritik.de/lyrikkritikakademie/
⁵  "Hey, ich bin Anne". Wenn leidenschaftliche Fans ein bekanntes Buch weiterschreiben, spricht man von Fanfiction. Ein berühmtes Beispiel: Anne Franks Tagebuch. Der Schriftsteller Clemens Setz über ein grelles Nervengift, das den Blick auf die Kunst schärft. Link: https://www.zeit.de/2015/32/fanfiction-anne-frank-sonic-tagebuch
⁶  Vgl: Marius Raab, Claus-Christian Carbon, Claudia Muth: Am Anfang war die Verschwörungstheorie. Springer
Verlag: Berlin 2017, S. 111 f.


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