Direkt zum Seiteninhalt

Christian Lehnert: Windzüge

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Meinolf Reul

Christian Lehnert, Windzüge



„Luthersprache – Dichtersprache“ hieß eine Lesungs- und Diskussionsveranstaltung, die Ende Juni dieses Jahres in der Berliner Akademie der Künste stattfand. Karla Reimert, Hendrik Jackson und Christian Lehnert sprachen über ihre Faszination für und Inspiration durch religiöse Sprechweisen – Jacksons Interesse dabei rein sachlich und neutral, Reimert und Lehnert, als gläubige Christen, parteilich.
Verlief die Diskussion in der Akademie, trotz der unterschiedlichen Standpunkte und biographischen Hintergründe der Teilnehmer, harmonisch, so zeigt die Anekdote, die Peter Huchel über Bertolt Brecht erzählt, die polarisierende Wirkung religiöser (oder vermeintlich religiöser) Residuen in einem atheistischen Umfeld: Brecht hatte das Wort „Gnade“ moniert, das ihm in einem von Huchels Gedichten aufgefallen war. „Das Wort Gnade könne man heute nicht mehr sagen, das müßte gestrichen werden, das sei ein Begriff aus der Feudalzeit oder ein religiöser Terminus.“

„Gnade“ – in Christian Lehnerts neuem Gedichtband, Windzüge, kommt das Wort, in seiner inkriminierten religiösen Bedeutung, dreimal vor.
Gott selbst wird auf- und angerufen.
Nun ist die Tradition christlicher Dichtung, deren Nachfahr und Erbe Lehnert ist, im deutschsprachigen Raum seit langem abgerissen, wenige nachzüglerische Ausnahmen, selber auch schon jahrzehntealt, bestätigen die Regel. Die Verweltlichung ist allgemein, man könnte sich Sorgen machen. Doch Lehnert ficht das nicht an. Fern religiöser Erbauung und kommoder Frömmigkeit, bietet er im Tausch für die metaphysische Erkaltung Glaubensfeuer, eine wache Beobachtung – nicht von ungefähr zitiert er Spinoza, der sich seinen Lebensunterhalt als Linsenschleifer verdiente – und eine kräftige Sprache, die sich ihrer Herkunft aus einem streitlustigen Protestantismus wohl bewusst ist.

Windzüge ist Lehnerts siebenter Gedichtband (zuletzt erschien Aufkommender Atem, 2011). Er versammelt, verteilt auf vier Kapitel, 66 Gedichte. Formstreng sind die allermeisten, erst zum Schluss hin erlaubt sich Lehnert lockerere Fügungen.

Eröffnet wird der Band mit fünf rätselvollen Gedichten zu je 8 Versen im Kreuzreim („Aus der Frühe“). Darin das Paradox eines „Gott[s], der hungert“, der  möglicherweise, zutiefst menschlich, „[v]erunsichert“ ist; auch der Widersinn von „Steine[n] / im Rucksack“.
Ein missmutiges und zweiflerisches lyrisches Ich verkündet:
„Ich mache keine Worte mehr. / Es gibt genug.“
Der Vers: „ich wachse gleichmäßig wie Gras[,]“ klingt stoisch, oder störrisch – doch wer sagt hier „ich“? Ist es ein Nachhall des Worts von Angelus Silesius, Gott sei das Grün der Wiesen?  

Nach diesen spröden vierzig Versen (wie die vierzig Tage in der Wüste), schlägt das umfangreiche zweite Kapitel, „Brennender Dornbusch“, unverzagtere Töne an.
33 Gedichte umfasst dieser Teil.
Viele umkreisen die Natur als Schöpfung, richten den Blick auf die niederen Wesen und Formen (Qualle, Falter, Mücke, Vogel, Blatt, Gras), die jedoch nicht als isoliert begriffen werden, sondern als Modus des Göttlichen, als Muster in einem Kontinuum: zum Beispiel die Libelle, der „das Graslicht in die Augen weht“, und die an einer Stelle „zögert“, „die Flügel [...] voll von Unsichtbarem“.

Das Numinose erscheint vor allem als etwas Leuchtendes. Helle, Klarheit, Durchsichtigkeit, Glanz sind je Spiegel der Transzendenz.
„Ein blaues Licht schließt sie von innen ein[.]“, wird in einem magischen Bild jene Libelle beschrieben. Der Strandgänger in einem thematisch verwandten Gedicht spricht zur Qualle:
„[...] uns erfüllt ein Licht, das uns nicht kennt“.
Der „Namenlose“ wird auch in Abstufungen von Atem, Hauch, Wind, Sturm, von Schwelen, Brennen, Glut und Feuer bedeutet (eben nicht benannt) und teilt sich durch diese mit: „Der Wind zog stetig weiter seine Schrift.“
Lehnerts Pneumatologie ist demnach auch eine Lehre der Entflammung.

Drei irreguläre Sonette stehen am Anfang dieses Kapitels, deren erstes, „Ein Vogel will erwachen [...]“, dem Gedenken Hans Werner Henzes gewidmet ist, dem 2012 verstorbenen Komponisten, zu dessen Konzertoper Phaedra (2007) Lehnert das Libretto geschrieben hatte. Behutsam gefügt und zartklingend, bezeugt es Lehnerts Sensibilität für noch die feinsten Phänomene der Natur, die in Windzüge verschiedentlich hervortritt (z. B. auch im Gedicht „Ich wachte auf von einem Vogellaut“), und wurde übrigens wiederum von Henze vertont.
Übertroffen wird dieses Sonett von einem anderen, Volker Braun zugeeigneten Sonett: „Der Aal, verstecktes Brennen, Rauch [...]“ beeindruckt mit dunkelvokalig-gebeizter Lautung, die Lehnert mit hellen Is, Liquida (l, r), Zisch-/Reibelauten und Plosiven (b, p, t) kombiniert und kontrastiert („das Baumblut zischelt aus den Poren“, „im Fluß die Fische waren giftig, nie / ein Aal, nur Rauch und Ahornstümpfe, Balken[,]“) – ein Kunststück.
Andere Gedichte zeigen Lehnerts Faible (und Begabung) für Naturmystik:
„[...] in die Hügel / sind Stämme eingesenkt wie Stummgebete“, heißt es dann zum Beispiel, die Verse sprechen vom „lange[n] Schlaf der Felsen“ oder preisen die Krähen: „Ihr Krähen, hütet uns das stille Feuer, / hütet Jahr und Tag, die Spinnenweben, / wo längst die Spinne fort ist, das Verschweben / der Sträucher, der erinnerten Gemäuer, // wo blank die Bänke stehen ohne Tisch.“

Das dritte Kapitel versammelt formal weit ausgreifende, zuweilen wuchtige, Gedichte, oft, aber nicht nur, vor dem Hintergrund einer winterlichen Landschaft.
„Wegwarten“ ist es überschrieben, nach der auf Wiesen, Äckern und Brachland wachsenden krautigen Blume, die – nicht unwichtig – blaue Blüten hat.
Die Gedichte führen ins Offene und Unwegsame, gehen in die (stadtnahe) Natur, die eine depravierte Natur ist, der der Mensch sein Brandzeichen eingeprägt hat: die Krähen „sinken wie Rußspuren nieder“, im „moosfaulen Dickicht verrottet, / was etwas galt im Sommer.“
Es ist reizvoll, in Hexametern von „zerbeulten Leitplanken, leuchtenden Hallen im Ödland“, von Bauzäunen, Kettensägen, Kanistern und Schläuchen zu lesen. Lehnert findet prägnante Bilder für die Verwüstung, die vielleicht nicht endgültig ist, sondern – es wäre zu hoffen – auf dem Wege der Verwilderung auch wieder Natur werden könnte:
„Beschildete Asseln / huschen ins Innere öliger Städte, ummanteltes Kupfer.“
Fabelhaft das Gedicht „Breitenau (Osterzgebirge)“, das die Landschaft porträtiert, in der Lehnert heute lebt („Die Häuser […] / […] stehen wie Falken im Ostwind. / Nebel aus dem böhmischen Becken geboren […] / […] die Felsen sinken wie schlafend, / breitstirnig, kalt, sie tranken aus der sächsischen Lethe[.]“).
Das Gedicht „Die Geschichte von der Pharaonenkatze und dem Krokodil“ sei, weil es aus dem Rahmen fällt, ebenfalls erwähnt. Es ist eines von zwei dialogischen Gedichten und bezieht seine Inspiration aus einem, aus heutiger Sicht, obskuren Buch, dem Physiologus, einem „metaphorisch-naturkundlichen Werk in griechischer Sprache“ aus dem 2. Jahrhundert n. Chr.: Der Leser erfährt es aus Lehnerts Anmerkungen und könnte es vielleicht auch so wissen, verfügte er denn über dessen theologische und altsprachliche Bildung. – Dies Gedicht ist ganz fremdartig zu lesen und sei hier auch gar nicht als Lieblingsgedicht genannt, sondern um auf Lehnerts Vielseitigkeit hinzuweisen, auch auf eine unvermutete Experimentierfreude, die freilich eine substantiell andere ist als bei, sagen wir, Ulf Stolterfoht.
Gleichwohl scheint die expressiv-mystische Wendung „hervorgehungert aus dem Nichts“ vom Gestus gar nicht so sehr verschieden von der „hergestotterte[n] / alkoholikerfaust“, die es bei Thomas Kling gibt (geschmacksverstärker), einem anderen wichtigen Vertreter der 'experimentellen' Dichtung, von deren Ästhetik Lehnert doch himmelweit entfernt ist.
Der im Gedicht erwähnte „Katzenstein“ erinnert an den Berg Katzenstein im Westerzgebirge, doch ist es nicht mehr als eine Namensgleichheit.

„Aus dem Bergwerk. Drei Sätze Martin Luthers“, lautet der letzte Teil des Buchs. Die besagten „Sätze“ sind Luthers Erinnerungen („Tischreden“), einer Predigt und einem zeitgenössischen Bericht über seine letzten Stunden entnommen.
„Bergwerk“ klingt nach Blockhaftigkeit, nach Massiv. Das Gegenteil trifft zu, denn anders als im vorhergehenden Kapitel, in dem die Versifikation manchmal wie eine unerbittlich rollende Maschine wirkte, eine den – mit Fragen, Figurenrede und grüblerischer Introspektion ohnehin beschwerten – Inhalt bedrängende Form, findet Lehnert in den Langgedichten von „Aus dem Bergwerk“ zu einer Freiheit der Rede, die keiner strengen Metrik bedarf, um als Geformtes kenntlich zu sein. Diese Kunst des freien Verses ist in die Regelschule gegangen, aber sie hat sie nicht mehr gebraucht.

Abschließend ein Wort zu Lehnerts Theologie. In seiner Laudatio zur Verleihung des Hölty-Preises an den Dichter vermerkt Sebastian Kleinschmidt, dass bei Lehnert „[a]lles Verweisen auf das Religiöse […] lautlos [geschieht], wie im Verborgenen, in äußerster Diskretion.“ Er nennt seine Dichtung einen „Stufengesang“, vergleicht sie mit einer Jakobsleiter: „Sie beginnt bei den Steinen und endet bei Gott.“
Auf Windzüge trifft diese Beschreibung – bedingt – ebenfalls zu, nur gibt es hier durchaus auch entschiedenere Formen des Verweisens wie Lobpreis, Segenswunsch, Gebet und Fürbitte, und gedankentiefe, an den Mystiker Angelus Silesius erinnernde, Epigramme:
Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß, / ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“
Mag Gott das Hintergrundstrahlen geben – es sind die demütigen Erscheinungen der Welt, denen Lehnerts Zuneigung gilt, die er besingt, und die ihm dazu dienen, einem „Gefühl der Nähe zu etwas nicht in Worte zu Fassendes“ (Kleinschmidt) Ausdruck zu verleihen.
So ist Lehnerts Theologie immer auch eine Theologie der Tiere: Das lyrische Ich bewundert sie als „absolute Partikel, Monaden, fraglos vorhanden“ – wo es sich selbst als „unvollendete[n] Körper“, als „Flickengestalt“ wahrnimmt –, erblickt in ihnen aber auch ein Sinnbild für das Leiden der Kreatur. Es leidet mit den hungernden Füchsen im Winter („jammervoll, ach, diese haarlosen Bäuche [...]“) und mit den Schafen im Tiertransporter, unterwegs zum Schlachthof: „wollige Körper wie alter Schnee, der taut an den Gittern[.]“. Andererseits erfreut es sich am Singen der Vögel, das z. B. im bereits erwähnten Sonett „Ich wachte auf von einem Vogellaut“ tastenden Ausdruck findet, am spillerigen Flug der Mücken oder an der überraschenden Gegenwart einer „Katze, zugelaufen wie ein Vers“. Es sieht auf zum „Krähenvolk, das schwarz am Himmel brennt“ oder registriert, mit einem schönen Stabreim: „[H]ier hetzen / Hunde durchs Altholz“.
So sind die ideell, nicht zwingend auch im Buchstaben, religiös gestimmten Gedichte Lehnerts weniger ein Zeugnis der Gottesliebe, denn eines der Mitgeschöpflichkeit.



Christian Lehnert: Windzüge. Gedichte. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2015. 116 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 18,00 Euro

Zurück zum Seiteninhalt