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Christian Filips: Heiße Fusionen, Beta-Album

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Vincent Sauer

„Obacht, Wir betreten den metrischen Raum!“

Wer wagt, gewinnt: Christian Filips „Heiße Fusionen: Beta-Album“


Wenn jemandes „Existenz“ auf dem Spiel steht, muss eine Person nicht schwer krank sein oder ein Produkt der deutschen Rüstungsindustrie an den Kopf gehalten bekommen. Jemand droht dann zumeist, ganz unphilosophisch, pleite zu gehen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter eines Unternehmens können die schlimmsten Stäube einatmen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jünger sterben, als man es zu einer gewissen Zeit in einem gewissen Staat demographisch erwartet: Das Unternehmen wird trotzdem als sehr „gesund“ eingestuft, solang es schwarzen Zahlen schreibt, wie es so schön heißt.
    Wer über Wirtschaft spricht, lässt der Menschen Leben in den üblichen Formulierungen gerne links liegen oder gesteht einer so abstrakten Angelegenheit wie einer Firma mehr Schmerz und Leid zu als dem störrischen Humankapital selbst. Nun kann man sich als Literat, der davon Wind bekommt, ins Fachjargon stürzen und mit Sprachschrott den Stand der Verkommenheit in anprangernde Gedichte setzen oder unter strengem Entzug „Paläste der Reinheit“ (Mallarmé) errichten, die so tun, als ob ein paar Worte dann doch für immer unbeschmutzt wären. Oder der Literat geht einen anderen Weg.

Christian Filips Gedichtband „Heiße Fusionen: Beta-Album“, der von Urs Engeler/ roughbook 005/045 noch einmal 2018 auf den nicht allzu großen Lyrik-Markt geworfen wurde, bietet Gedichte, die mit „Instant Krisen“, „Heiße Fusionen“ und „Heischesätze“ betitelt sind. Seinem Selbstverständnis nach ist dieses Buch übrigens Werk eines Arkadischen Kollektivs, das Filips‘ längst vergriffenen Band, der nur „Heiße Fusionen“ hieß, jetzt kommentiert, überarbeitet und erweitert hat. Anders gesagt: Das vorliegende Buch ist Resultat einer (unfreiwilligen) Fusion. Wie das? Wie üblich bei den roughbooks beginnt der Text schon auf dem Cover, diesmal mit einer Sicherheitswarnung. Jemand im krisengebeutelten (unter deutscher Austeritätspolitik leidenden) Griechenland habe den Ordner „Heiße Fusionen“ auf dem Rechner des Dichters gehackt. Der muss danach Fragen des Computers über sich ergehen lassen, um zu beweisen, dass er tatsächlich er (ergo: rechtmäßiger Inhaber der Datei) ist. Aber selbst die Sicherheitsfragen wurden gehackt. („Aaargh!“, wie man in Computerspielsprache sagt.) Und zwar von „arkadischen Bettwanzen“, die gern mit dem Autor fusionieren würden. Fortan kommentieren diese Wesen (oder der gehackte Lyriker selber, unter Legitimationsdruck?)  die Gedichte, entzaubern sie ein bisschen und verifizieren sie gleichfalls durch Angaben von Anlass, Auftrag, Lektüre, die dem jeweiligen Text vorangingen.

Diese Gedichte wiederum sind keine Karikaturen eines Neusprechs der Wirtschaft, der die Verhältnisse verschleiert. Genauso wenig wird aus dieser Fusion ein posthumaner Diskurs in wildgewordenen Zeilen, wo von Perspektive zu Perspektive gesprungen wird und man en passant zeigt, wie viele Formen und Theorien und und und man kennt. Filips` Gedichte sind nicht Arbeitsnachweis oder ewig verlängerte Abschlussarbeit, sondern radikal subjektive, oft narrative, selbstreflexive „poetische Gedanken statt rhetorischer Reflexionen“ (Marx) … größtenteils – einige sind vielleicht auch schlicht kluge Witze.

Filips scheut sich nicht zu reimen, schreibt oft Zwei- oder Dreizeiler, gern auch mal ein Prosapoem. Filips überfrachtet nichts mit unentschlüsselbaren Doppeldeutigen for art’s doubtable sake. Stattdessen wagen die Gedichte, etwas zu sagen zu haben. Dabei machen die Texte vor Biografie, Sexualität, allem, was man schnell als private Befindlichkeit zu unrecht abtut, nicht Halt, sondern schreiben in den „Instant Krisen“ mit ihnen, gegen sie an vielleicht, aber nie über sie hinweg. Etwa in der „Instant Krise ohne Stör“ in bekanntem Reimschema, mit Abweichungen von der grammatischen Norm:

„In meinen Krisen gibt es nichts, das stört.
Das macht ja meine Krisen so gemein.
Hier stehen alles so wie hingehört.
Die wahren Krisen waschen alles rein.

Vor ihnen hilft nur: Augen zu. Verschleißen.
Bleibt abzuwarten, ob uns einer hört.
Erhört mit Störung. Ständig ungestört
kann keiner mehr als rechten Dichte schiet.

Klebt Krise an mir, tuten mich der Schlund
anöden, sitz ich da bloß. Weiß Bescheid.
Wir (ich und meine Krisen) schön uns weiden
wie Hirten am Stecken ihr Leid.

In meinen Krisen kraul ich mir die Flöten.
In meinen Krisen bin ich reichlich da.
In meinen Krisen bin ich nicht erbötig.
In meinen Krisen brüll ich nach Papa.

Weil alles so arkadisch angegossen,
in diesen Krisen ist viel Schnaps geflossen.
Et in Arcadia ego, sing ich leis.
Mein Krisen sei ein Kreisen. Mir ist heiß!

(…)“

Mit geschlossenen Augen zu verschleißen; Bescheid, wie ein Formular, (etwas) zu wissen; festzustellen, „bloß“ zu sitzen; in „Krisen“, nicht einfach Krise schieben, ein Kreisen meinen auszumachen — es gehört ziemlich viel dazu, in einem Gedicht, dem man einen Parlando-Stil unterstellen kann, dass so viel beiläufig durch die Sprache zu Tage tritt und es „mehr sagt“, ohne dafür in den Untiefen entlegener Lexika zu kramen.  
    Es finden sich aber auch Gedichte, in denen das sogenannte Politische und das sogenannte Private offener eng verstrickt werden. So etwa in der „Heißen Fusion mit ewigen Werten“, die als „Auslassungen zum europäischen Erbrecht“ zu verstehen sind, wie im Kommentar steht.  

„Fürwahr, es kommt der Etat in die Jahre.
Empfohlen wird Betagten, den eigenen Tod
abzuwohnen, ihr Haus zu bestellen,
frühzeitig alles zu vererben, sich besser
noch pflegen zu lassen, vor dem Vergessen.
Diese Methode ist beliebt in alten Regionen
Europas, wie Süditirol oder Flandern.
Hier sieht man die eigenen Werte nicht wandern.
Hier liegen sie in Barren noch, in Bank-
Tresoren, hinter harmlosem Backstein gebunkert.

(…)“

Es folgt die Darstellung eines Erbstreits um das Vermögen einer flämischen Tante, der hiermit schließt

„Ich habe den belgischen Staat eingeschaltet,
der das gesamte Erbe inzwischen verwaltet.
Auf alle Ansprüche wurde gegenüber
Bewindvoerder & Vrederechter verzichtet.
Seither wird auch ganz offiziell
nurmehr umsonst gedichtet.“

Das Gedicht spricht sehr viel Wahres übers „Sterben heute“ (Adorno), die Sichtbarkeit des Kapitals und über Europa, bis es mit der Einsicht schließt, unbezahlt weitermachen zu müssen. Gewiefte Leser mögen das auch als Reflexion auf Tradition, Fortschritt und die Kosten rhetorischer Mittel lesen. Wer kann sich Metaphern heute noch leisten?  

Die Heischesätze — linguistisch: Wunschsätze; mathematisch: Sätze, die nicht bewiesen werden — über den Vater gehören zu den besten Gedichten der letzten Jahre. Und zwar die einzelnen Gedichte als Gedichte und nicht etwa ein nebulöses Konzept, das erhaben im Hintergrund dröger Verse herumschwebt.
    Wünsche lassen sich nicht begründen, das Ende einer Krise nicht bestimmen, Fusionen sind immer im Gange, aber trotzdem will man über sie, sich selbst, den eigenen Standpunkt befragen. Diese Gedichte nehmen nichts hin.

Filips' Schreiben geht Wagnisse ein. So billig das klingt: Gerade deshalb, weil sie ein Interesse daran haben, dass man sie versteht. Das funktioniert. Ein Literat aus Fleisch und Blut, der in unserer Zeit eine Biografie hat, dem sich die Welt und er selbst aufdrängen, ist am Werk. In vielen Gedichten heute, die vielleicht Angst haben, pubertär zu wirken, soll dieser Eindruck ja nie niemals nicht aufkommen. Es ist gut, ja aufklärerisch, wenn man beim Lesen immer wieder realisiert, dass man da ist.


Christian Filips: Heiße Fusionen, Beta-Album. Gedichte und Analysen zur poetischen Ökonomie, 2007 – 2018. Hrsg. von Urs Engeler. Holderbank, Schupfart, Berlin-Moabit, Pera Melana (roughbook 005 / 045) 2010 / 2018. 132 Seiten. 10,00 Euro.
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