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Charlotte Warsen: Kritik vs. Kommentarfunktion

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Charlotte Warsen


Kritik vs. Kommentarfunktion



Kritik solle nicht die Urteile, sondern die Lebenszeichen mehren – das schrieb mal Foucault, vermutlich in einem von ihm selbst unbeobachteten, geheimen Moment. Letzteres sehe ich sehr wohl in der einen oder anderen Besprechung und in vielen der im Internet verstreuten Kommentare vor sich gehen. Eine Lyrikkritik aber, die glaubhaft an ihrem Gegenstand zweifeln und seine Voraussetzungen darlegen, zerlegen oder auch neu erfinden würde, wie es sich ein Foucault anderer Textstellen wohl hätte wünschen mögen, sehe ich nur bedingt.

Was mir angesichts der 'Lyrik' fehlt, ist der Versuch einer Aktualisierung ihres Begriffs von Lyrik (und auch die entsprechenden, in der Praxis längst ergriffenen, Maßnahmen zu dessen Abschaffung in letzter Konsequenz). Hier sehen wir die Möglichkeit von Kritik, dort sehen wir die Lyrik, die es gleich, auf zartere oder härtere Weise, mit der Kritik zu tun bekommt – auch wenn einige Kommentare die teils personelle, inhaltliche und stilistische Vermengung oder partielle Ununterscheidbarkeit von Lyrik und Kritik betonen ('Lyrik ist immer schon Sprachkritik'), ändert das nichts daran, dass die Kritik hier doch eher als Kommentarfunktion wahrgenommen wird, denn in ihrer Funktion, Begriffskategorien zu torpedieren. Ich bekomme tatsächlich meist den Eindruck, Lyrik wird als vorhanden angenommen. Warum?

Momentan funktioniert der Begriff der Lyrik in meinen Augen weder sinnstiftend noch Neues eröffnend; er fungiert weiterhin meist als lahmer Gegenspieler zu einem lahmen, aber recht mächtigen Begriff von 'Prosa'; beide auf die minimale Funktion beschränkt, für alle Ewigkeit den, nur betriebsblinden Augen einleuchtenden, Unterschied untereinander zu markieren. Weniger Lyrik gleich mehr Prosa, und umgekehrt; so oder so ähnlich geht die Gleichung, die in der öffentlichen Wahrnehmung von Literatur immer noch die wirkmächtigste und für alle „nichtprosaischen“ Formen eine unvorteilhafte Unterscheidung darstellt, zumindest was kritische und auch finanzielle Aufmerksamkeit angeht.

Ich kann mit dem jetzigen Begriff von Lyrik meine Lyrikfreunde über facebook zu Lyrikveranstaltungen locken, eventuell einige Lyrikschubladen öffnen und einige Lyrikbandbuchdeckel schließen. Ich kann mit ihm aber, im wahrsten Sinne des Wortes, wenig anfangen. Und letzteres ist nun aber genau das, was man von Begriffen erwarten darf. Wenn ich momentan sage: „Lyrik“, dann bezeichne ich damit zuallererst sprachliche Erzeugnisse einer bestimmten Szene, denn künstlerische Verfahren mit Sprache als Material, die gibt es auch anderswo.

Für die Arbeit an adäquaten Ersatzbegriffen oder auch für Wiederbelebungsversuche am Lyrikbegriff selbst braucht es nicht unbedingt philosophische Abhandlungen oder die  Literaturwissenschaft, von der ich nicht genau weiß, wo sie (außer einiger weniger Ausnahmen), eigentlich abgeblieben ist (? dies ist keine Polemik, ich habe tatsächlich einfach keinen Schimmer. Mich würde aber interessieren, was dort hinsichtlich einer Idee von Lyrik state of the art ist). Was im Bereich der Kritik-als-Renzension-Besprechung-Kommentar in dieser Hinsicht oft fehlt – neben einem Literaturjournalismus, der die Vielfalt an live-Formaten, Bucherscheinungen oder auch (un)guten Rudelbildungen ausführlicher abzubilden bereit und in der Lage ist – sind Texte, die solcherart szenebedingten Einhegungen der Perspektive entgehen, indem sie sie entweder ignorieren oder kommentierend darüber hinwegfegen, um das, was als Lyrik firmiert, einem Vergleich mit allem anderen auszusetzen, was an sprachkünstlerischen Verfahrens- und Textformen anderswo (in Musik, bildender Kunst, Theater, o.ä. o.ä.) lebt und gedeiht und sich oft genug in Erscheinung und Praxis ununterscheidbar mit Dichtung verbändelt.

Dazu gehören auch die Formen, die immer mal wieder die Prosa/Lyrik-Grenze überschritten und verkrittelt haben und dabei aufgegriffen und mit verdrucksten Ersatzwendungen wie 'Miniaturen', 'Kurzprosa' oder 'Prosagedicht' etikettiert wurden. Die es aber eigentlich verdient hätten, zu neuen – gerne erratischen, um das schöne Wort aufzugreifen – Begriffsbildungen im Bereich Literatur, (Sprach)kunst sowie in den Wissenschaften, die die kulturellen Funktionen von poetischer Sprache auch abseits der Hervorbringung künstlerischer „Meisterleistungen“ erkunden, zu führen. Oder sagen wir eher: neuen Ideen zu dem, was Schreibende und Lesende und Vortragende tun, wenn sie tun, was sie tun – zu den Verfahren, den niederen Beweggründen und hehren Zielen (und umgekehrt).

Das Gros der lyrikkritischen Produktion langweilt mich (weil einen das Gros von fast allem irgendwo langweilt, und:), weil ich fast immer den Eindruck gewinne, hier werde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass klar ist, wovon gesprochen wird, ohne die Grenzen der Kategorie zu hinterfragen, in der man sich selbst bewegt, obwohl letzteres nach wie vor der eigentliche (zumindest der kantische) Gag in Sachen Kritik ist, den ich auch nach wie vor für sehr einleuchtend halte (samt bzw. plus ein Wissen um die eigene (ultimative) Unaufgeklärtheit, den (seel)sorgerischen Umgang mit der Horde Leserinnen, die sich im eigenen Inneren unversöhnlich miteinander vergnügt, dem versuchsweisen Verzicht auf Chauvi-Schläge mit stilistischer Handkante, sowie die uneingeschränkte Inanspruchnahme in anderen gesellschaftlichen Bereichen bereits etablierter Kulturtechniken wie „auch mal andere Leute dazu befragen“ bzw. das bereits genannte „digitale Schreiben im Dialog mit aktiver Kommentarfunktion“, wobei mich da auch die Frage interessiert, ob die Berechtigung zu scharfer Polemik in dem Maße steigen kann, wie die institutionelle/soziale Widerspruchsschwelle sinkt).

In oberflächlicher, manchmal auch anbiedernder Weise gelingt der Schulterschluss mit (zb) der Kunstszene sprachlich allzugut: Zeitschriften werden 'kuratiert', Lesungen sind schon Performances, wenn jemand mal irgendwo herumsteht anstatt nur zu sitzen. An vielen anderen Stellen beschleicht einen das Gefühl, die Grenzen der Lyrikszene sind die Grenzen einer Welt, in der es möglich ist, das Rad ständig neu zu erfinden. Hier können noch Grenzen überschritten werden, wo andere Kunstformen längst Sofalandschaften herumstehen haben, hier wird immer nochmal wieder die „Materialität der Sprache“ betont, als sei sie das dialektische Andere der Semantik, die Digitalität neu entdeckt, Lyrik als ultimatives Erkenntnisinstrument – „dem Denken so nah“ – abgefeiert usw.

Indem ich dies bemängele, möchte ich nicht einer altbackenen Idee der Kunst als dem absolut Neuen das Wort reden, sondern – nach dem Lyrikermotto 'maulen statt machen' – eine Kritik einfordern (ich würde sie eigentlich gerne an einer extra dafür bestimmten Stelle anfordern oder gar beantragen), die andere Traditionslinien zieht und Fluchtlinien eröffnet, als sie der heutige Lyrikbegriff in meinen Augen hergibt, wenn er sich auf sich selbst oder eine Geschichte der Lyrik/Dichtung/Poesie verlässt. Das kann für die „Lyrik“ an einigen Stellen bitter werden, evtl. auch existenzbedrohend, würde aber evtl. zu neuen Parametern und neuem Vokabular führen, um das, was von ihr übrig oder zu ihr dazugestoßen worden sein wird, entsprechend zu benennen. Für Schreiben und Akteur*innen (mit 'Kritik' einerseits, 'Schreiben und Akteur*innen' andererseits werden versch. Rollen benannt, nicht versch. Individuen) wäre alles sowieso eher ungefährlich, oder im guten Sinne provozierend. Ich glaube, gefährlich ist es auf Dauer, wenn „die Lyrik“ sich in relativer, auch begrifflicher Abgeschirmtheit, die vielleicht in den letzten 10-15 Jahren als eine Art Brutkasten fungierte, einrichtet; gleichzeitig gibt es in der jetzigen Lyrikproduktion Formen der gegenseitigen Kritik, Zusammenarbeit und aggressiven Schrulligkeit, die absolut schützenswert sind und in dieser Form in meinen Augen in anderen Kunst- (und Gesellschafts)bereichen kaum existieren.

Dass mich und Andere das Gros der Lyrikproduktion ebenso oft langweilt wie die Kritik (im buchstäblichen Sinne, nämlich in Form vieler Produkte, die hier entstehen), mich aber die 'Lyrikszene' (trotz einiger grinchiger Anwandlungen ab und an, die evtl. dem eigenen Charakter geschuldet sein könnten), dennoch weiterhin wie Sean Penn in dem Film U-turn (nur auf viel liebere Weise) insgesamt bei sich hält, liegt vor allem aber daran, dass es hier seit langem (auch) um etwas ganz anderes geht, als um das gemeinsame Giftverspritzen am Kneipentisch, die regelmäßigen, individuellen, aber auf die 'Lyrikszene' bezogenen, ihr-könnt-mich-alle-mal-Moves in den sozialen Netzwerken und ein neidvolles Warten auf die Meisterwerke einzelner. Oder zumindest um etwas anderes gehen könnte, so die immer mal wieder (und, wie ich finde, bei immer mehr Veranstaltungen, Bucherscheinungen und Treffen) aktualisierbare Ahnung. Neben einer ganz tatsächlichen Solidarität und den oft tatsächlich ehrlichen und fairen Formen wechselseitiger Kritik, die man beispielsweise im Bereich der bildenden Kunst mit der Lupe suchen kann.

Tristan Marquardt hat schon umrissen, was er sich von einer Lyrik- oder eher Sprachkunstszene erhofft: gemeinsame künstlerische Arbeit an Sprache als sozialer Praxis. Das heißt auch: es geht nicht vorrangig um das subkulturelle Hochzüchten von mehr genialischen Wunderwerken und -kindern, die dann im Erfolgsfall an den abhängigen Teil des Betriebs (um mal von den unabhängigen Verlagen auf den Rest zu schließen) abzugeben sind und deren Status überhaupt auf betrieblich inszenierter Einzigartigkeit beruht (oft bei gleichzeitigem Ausblenden der durch soziale Privilegien vermehrten Gelegenheiten, sich künstlerisch auszuprobieren und die rules of attraction zu lernen). Es geht darum, eine Kultur des Kunstschaffens zu schaffen / aufrechtzuerhalten, in der die Gruppe der (Kritiken / Lyriken) Schreibenden sich nicht aus der immergleichen sozialen Schicht speist (die Diskussion gab es ja bereits ausführlicher zum Thema Prosa, im Falle der Lyrik bekommt eine solche Feststellung durch die ein wenig abwegigere Vorstellung, dass alle hier reinwollen könnten, einen lustigen touch). Gleichzeitig geht es sehr wohl um eine Kultur, die Ausnahmeerscheinungen anerkennt und honoriert – in der der Durchschnitt also etwas anderes als sich selbst um sich herum duldet – und die auch nicht an jeder Preis-an-mir-Vorbeigabe herummäkelt (obwohl ich ausgelebte Missgunst im Zweifelsfall angenehmer finde als die unehrlichen Alternativen, und oft treten ehrliche Anerkennung und ehrliche Missgunst ja hübsch miteinander vermischt auf. Allerdings gibt es in der Lyrik eine Tendenz, sich in eine Art Rausch der Untätigkeit reinzumotzen). Für die Kritik bedeutet das eine zumindest teilweise Verschiebung weg von der Bewertung der Leistungen Einzelner anhand fragwürdiger ästhetischer Kategorien hin zu einer Bewertung gemeinsam entwickelter Textbesprechungs-,  Aufführungs-, Publikations- und Produktionsverfahren – anhand fragwürdiger, und größtenteils noch ausstehender, Kategorien.

Die heutige „Lyrikszene“ wird einer solchen Idee von ihr (/von Kunst) bisher oft in ihren Formaten gerecht, in ihren Diskussionen und Textwerkstätten, ihren oft sehr fachkundig, ehrgeizig und idealistisch betriebenen Publikationsformen und Lesungsformaten. Sozial – bzw. was den sozialen Status ihrer Protagonist*innen angeht, oft auch; was die Themen- und Formfindungen betrifft (mal ganz abgesehen von ihrer verhältnismäßigen Winzigkeit als Szene insgesamt) – wird sie ihr eher wenig gerecht, insofern ihr Gemeinsames (noch/momentan/wieder) zu homogen ist, um als solches eine soziale Herausforderung darzustellen. Ich denke, hier wird eine Art künstlerischer Solidarität und Zusammenarbeit eingeübt und praktiziert, die insgesamt selten ist, hier und da wohlmeinend links, ab und an ein wenig queer – die sich aber trotz Umtriebigkeit vieler ihrer Beteiligten immer noch ein wenig arg nach gated community anfühlt und gerade von außen auch allzuoft ebenso wirkt.

Es gibt ein Interview, in dem Hilde Domin beschreibt, wie sich in den 60er Jahren die Benennung dessen, was heute nun auch meist immer noch Lyrik genannt wird, von den Begriffen 'Poesie' oder  'Dichtung' hin zur Verwendung der Begriffe 'Lyrik' und 'Lyriker' verlagert hätte. Ihrer Einschätzung nach war diese Verschiebung u.a. davon motiviert, dass sich die – größtenteils aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden – Protagonist*innen der Literaturszene, im Zuge linker Politisierung gern an die (technischer oder proletarischer klingenden) Berufe Elektriker, Mechaniker oder Mechatroniker, wenn schon nicht real, dann doch zumindest phonetisch, ranschmiegen bzw. dranhängen wollten.

Solche Beobachtungen/Behauptungen zu Dichtung, die einen Schritt weiter zurücktreten, um ihren Gegenstand aus unsicherer Entfernung zu verunsichern, fehlen mir.  



Einige weitere, zusammenhanglose Anmerkungen zu Anmerkungen zu Lyrik:


Was den Umgang mit Besprechungen angeht, halte ich die, woanders kaum denkbare und in der Lyrikszene grassierende Absonderlich- und Zwanghaftigkeit, unliebsamen Rezensionen am laufenden Band öffentlich (oder anscheinend auch per Mail an die jeweiligen Verursacher*innen) widersprechen zu müssen, nicht nur für erheiternd und nervtötend, sondern auch für absolut vielversprechend. Genau diese Form ist es doch, die Fixpoetry nun in eine öffentlichere, offiziellere und um einige (persönlicher Beleidigtheit geschuldete) Spitzen bereinigte – dadurch aber evtl. auch in eine weniger anarchische Form der Kritik umwandelt. Kein Mensch kann von sich aus „mit Kritik umgehen“, daher gilt es, die Reaktionen in nicht gewalttätige aber dennoch erkenntnisträchtige Formate zu überführen.

Was die Formen der Besprechungen angeht, sehe ich 3 Tendenzen, die ich problematisch finde, und in der Lyrikkritik mit besonderer Hingabe betrieben: die sich-am Riemen-reißerische Kritik, die in ihrer eigenen Deutungsunsicherheit ostentativ und against any interpretation herumsuhlt und damit immer wieder eine Vorstellung weitgehender Unverständlichkeit von Lyrik zementiert. Desweiteren die schizoid freidrehende, als Kritik und manchmal auch als Poetik getarnte, Paralyrik, die den zu besprechenden Texten, unter impliziter Berufung auf die prinzipielle Unverständlichkeit des Universums, ein eigens angefertigtes Wirrwarr zur Seite stellt, anstatt an irgendeiner Stelle auch nur versuchsweise von der Seite her einzuhaken, sowie, drittens, die Rezension im Modus der Regierungssprecheransage („verkünden statt begründen“, „Wir sagen hier nichts, aber wir sagen es scharf und bestimmt!“). Abgesehen davon sehe ich viele sehr gute (teils gerade in Entstehung begriffene) Plattformen für Lyrikkritik, um den Text an dieser Stelle mit einer affirmativen Tendenz zu beenden.

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