Charles Simic: Im Dunkeln gekritzelt
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Fast cool
Stefan Hölscher
Zwei Gedichtbände von Charles Simic vereint der im
Oktober im Hanser Verlag erschienene Band „Im Dunkeln gekritzelt“: den 2017
erschienenen Band „Scribbeld in the Dark“ sowie den aus dem Jahre 2019
stammenden Band „Come closer and listen“. Aus dem Englischen übersetzt wurden
die Texte von Michael Krüger und Wiebke Meier. Anders als das 2016 ebenfalls
bei Hanser erschiene „Picknick in der Nacht“ stellt das neue Buch den deutschen
Übersetzungen nicht die englischen Originaltexte gegenüber, was bedauerlich
ist, nicht nur, weil ja doch recht viele Lesende der Simic Poeme des Englischen
mächtig genug sein dürften, um den Originaltext zu verstehen, sondern auch, weil
es ja zumeist klangliche, rhythmische und semantische Feinheiten sind, mit
denen Simic seinen ja im übrigen fast umgangssprachlich normal erscheinenden
Gedichten poetische Prägnanz verleiht. So ist man bei der Lektüre nun
angewiesen auf die Übersetzungsarbeiten von Krüger und Meier, die jedoch den
Simic Sound und Stil fein zu treffen scheinen.
Wer mit den Texten des 1938 in Belgrad geborenen und
zusammen mit seiner Familie 1954 in die USA emigrierten Simic nicht vertraut
ist, wohl aber vernommen hat, dass Charles Simic nicht nur viele Gedichtbände
publiziert, sondern dafür auch zahleiche renommierte Würdigungen erhalten hat,
mag zunächst beim Blättern in dem Buch über die Profanität der Titel überrascht
sein: „Die Woche“, „An die Langeweile“, „Fisch auf dem Trockenen“,
„Unleserliches Gekritzel“, „Geschichte“, „Zeichen der Zeit“, „Im Gericht“ etc.
Dieses Titelensemble wirkt so wenig vitali-sierend wie eben ein „Fisch auf dem
Trockenen“ oder ein „Unleserliches Gekritzel“. Verstärken könnte sich der
Eindruck des potenziell Wenig-Spannenden noch dadurch, dass man Simics Gedichte,
die zumeist in drei oder vier Strophen mit ungereimten Versen daherkommen, so
liest, wie man es wegen ihrer Klarheit und Zugänglichkeit tun könnte: nämlich
so oberflächlich schnell wie die Texte einer Fernsehprogrammzeitschrift. Man
wird dann tatsächlich nicht viel Neues erfahren – weder poetisch noch
überhaupt.
Eine größere Herausforderung, die Simics Gedichte an die Lesenden
stellen, besteht daher darin, dass ihre Lektüre deutlich mehr Achtsamkeit und
Genauigkeit erfordert als es den Anschein hat – jedenfalls dann, wenn man an
diesen Texten nicht nur ungerührt vorbeigleiten möchte. Im ersten Absatz ihres
Nachworts zu den Gedichten schreibt Wiebke Meier: „Charles Simic ist ein
Flaneur. Er tut nichts lieber, als durch eine Stadt zu streifen und zu
beobachten: Mütter und ihre Kinder, Männer und Frauen, Alte und Junge,
Spielplätze, Bäume, Hunde, Katzen und Vögel, vor allem Krähen. Er geht an
Wolkenkratzern und Sportplätzen vorbei, blickt auf Werbetafeln, in Restaurants,
in die erleuchteten Fenster der Wohnungen, die Kirche und den Waschsalon. Die
auf den Spaziergängen gesammelten Eindrücke werden zu einem »geheimen Fotoalbum
« in seinem Kopf mit einem Bildervorrat, auf den er jederzeit zurückgreifen
kann. Jedes Bild, jede Szene ist ein »kleines Universum für sich, für den
forschenden Blick unerschöpflich«. Diese Moment-aufnahmen bilden den Kern von
Simics Gedichten.“
Der „Flaneur“ und Beobachter Charles Simic ist allerdings jemand, der
der Welt mit Fragen begegnet, und so beiläufig die Beobachtungen und Eindrücke
bei Simic daherzukommen scheinen, so schwer und verstrickend können die Fragen
sein, die dabei immer im Hintergrund lauern: Warum gibt es überhaupt Menschen?
Warum gibt es mich? Was ist Glück? Wie ist die Verteilung von Schmerz und Lust
auf diesem Planeten? Was bedeutet Vergänglichkeit und Sterben? Warum ist Krieg
und Zerstörung omnipräsent in dieser Welt? … Solche und ähnliche Fragen könnten
einen runterziehen in die Abgründe der Metaphysik oder in die einer depressiven
Stimmungslage, wenn, ja wenn Simics Texte nicht gleichzeitig so lakonisch, so
unprä-tentiös, so scheinbar deskriptiv und immer wieder auch so
selbstverständlich grotesk und absurd mit ihnen umgehen würden:
DER AMERIKANISCHE TRAUM
Wenn Arlene vor dem SpiegelAuf der Kommode die Nase pudertUnd ihre nackten Brüste beäugt,Die Puderquaste nach unten rutschtUnd eine Brustwarze streift,Während ein Prediger im FernsehenSeine Gemeinde einlädt, zu betenUnd ihm heute Geld zu schicken,Nennt man das Der Amerikanische Traum
Selbst da, wo Simics Texte ganz explizit das
unumgängliche und mit jeder Form von Leben und Schicksal verbundene „Fallen“
thematisieren, tun sie dies ganz unpathetisch. Sie „fallen“ leicht:
DER FALLEiner schlägt mit den Armen, um den Fall zu stoppenEiner besteigt eine Leiter, die er mitgebracht hatEiner lugt in eine zerfledderte BibelEiner lacht ständig über einen WitzEiner öffnet einen großen roten SchirmEiner greift nach einem Strohhalm in der Luft,Überglücklich, ihn einen Augenblick zu fassen,Bestürzt, wenn er ihm einfach so entschlüpftDu da oben, hast du je einen gerettet?Ruft eine junge Frau aufgebrachtAls sie neben ihren Kindern fälltMit ihren Gedanken still und allein
„Still und allein“, ohne einen behütenden Gott scheint
in Simics Texten nicht nur die „junge Frau“ zu sein, die „neben ihren Kindern
fällt“, „still und allein“ sind letzten Endes wohl auch die anderen in den
Gedichten auftauchenden Geschöpfe, selbst wenn sie sich gerade inmitten einer
Welt heftiger Aktionen und Interaktion zu bewegen scheinen. Gerade dieses
Gefühl des existenziellen Alleinseins gegenüber dem eigenen Schicksal oder dem
eigenen „Fall“ ist es wohl auch, das dem lyrischen Ich (und uns) einerseits
unlösbare Fragen und Rätsel aufgibt – das ganze Spektrum der Metaphysik – und
andererseits die Möglichkeit für eine betrachtende und manchmal fast
achselzuckende Gelassenheit eröffnet, so wie sie Simic offenbar auch seinem
eigenen Leben gegenüber einnimmt, das er als Kurzbiographie so umreißt:
KOMM HER UND HÖR ZUIch wurde geboren – weiß nicht wann –,Ein Klaps auf den HinternUnd schreiend jemandem übergeben,Der viele Jahre schon tot ist,In einem Land, das es nicht mehr gibt,Wo ich, wie ein Blatt vom Baum,Das schöne Wetter vorbei,Mich wirbelnd drehte, zu Boden wehteFast ohne Laut
Als leichte Beute für den Wind,Segen oder Fluch – wer kann das sagen?Mich regt das nicht mehr auf,Denn ich hörte die Leute redenVon einer blinden Dame namens Gerechtigkeit,Die eifrig jedermanns Sorgen anhört,Weiß aber nicht, wo ich sie findenUnd nach dem Grund fragen kann,Warum die Welt es mal gut,Mal schlecht mit mir meint. Doch nieWürde ich sie als erster tadeln.Blind, wie sie ist, das arme Ding,Macht sie’s, so gut sie kann.
Fast genau in der Mitte dieses Texts steht der schöne
Satz „Mich regt das nicht mehr auf“ – heftig changierend zwischen
abgedroschener Phrase und tiefer Erkenntnis, zwischen psychologischer
Absichtsbekundung und offenkundiger Unglaubwürdigkeit, zwischen weiser
Gelassenheit und bodenloser Ohnmächtigkeit: und doch ganz konsistent inmitten dieses
Lebens und all der Widersprüche, denen das lyrische Ich begegnet und an denen
es uns mit seinen Wahrnehmungen teilhaben lässt. Fast cool, sodass selbst der
„Schatten an der Wand“ zum Anlass für eine gesellige Einladung wird:
SCHATTEN AN DER WANDUm MitternachtLaden wir einEinen Narren wie unsAuf ein Glas Wein.
Charles Simic: Im Dunkeln gekritzelt. Übersetzt von
Wiebke Meier und Michael Krüger. München (Hanser Verlag) 2022. 168 Seiten.
24,00 Euro.