Charles Racine: Lichtbruch - Bris de lumière
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Jan Kuhlbrodt
Charles Racine: Lichtbruch – Bris de lumière. Französisch /
deutsch. Übersetzt von Felix Philipp Ingold. Zürich (Limmat Verlag) 2019. 200
Seiten. 38,00 Euro.
Zu Charles Racine: Lichtbruch/ Bris de lumière
2Der Traum liegtnächst den Zähnendes verschwundenen Totenwo ein Gebinde liegt.
Das ist der zweite Teil eines fünfteiligen Gedichtes von
Charles Racine. Man kann es durchaus als Kommentar zur Karwoche lesen.
Im letzten Jahr ist im Schweizer Limmat Verlag ein Buch mit
ausgewählten Gedichten des Lyrikers Charles Racine und Übersetzungen von Felix
Phillipp Ingold erschienen. Zweisprachig. Eine Schweiz-Schweizer Produktion,
wenn man so will, und es zeigt mir wieder einmal, welchen enormen kulturellen
Mehrwert die Mehrsprachigkeit zeichnet.
Man könnte eine ganze Reihe Schweizer Autorinnen und Autoren
aufzählen, viele, von Cendrars bis Raeber, die die Grenzen des eigentlich
kleinen Landes sprengen. Aber bleiben wir zunächst bei Racine und Ingold, schon
hier wird ein paneuropäisches Geflecht literarischer und künstlerischer Beziehungen
sichtbar. Und Sichtbarkeit ist auch das Stichwort.
Auf dem Schutzumschlag des Buches nämlich ist eine Graphik abgebildet. Schwarzweiß. In einem grauen Hintergrund kristallisieren sich eine schwarze und eine weiße Struktur, scheinbar zusammengefügt je aus Rechtecken und Quadraten. Sie, die beiden Strukturen scheinen komplemen-tär, ohne dass die eine ein Abguss der anderen wäre.
Diese Grafik ist eine Arbeit von Eduardo Chillida und heißt Aldikatu 111. Es ist eine Form der Abstraktion, die den Betrachter kunstgeschichtlich weit in das zweite Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts mitnimmt, als die abstrakte Kunst, wenn man so will, auf der Suche nach Löchern im Zeitstrahl war und damit die Verwerfungen der damaligen Gegenwart umso mehr illuminierte. Und das vollzog sie nicht nur in der bildenden Kunst. Auch in der Literatur, und da vor allem in der Poesie, kristallisierten sich ebenfalls Formen des Abstrakten.
Charles Racine ist 1927 in Moutier geboren, im Jura
aufgewachsen, pendelte zwischen Frankreich und der Schweiz und ist 1995 in Zürich
gestorben.
Im Nachwort erfahren wir, dass Racine 1965 nach Paris kam
und dort unter anderen auf Celan, Daive, Bonnefoy, Chillida und Tapies traf.
Ein Gipfeltreffen der Abstraktion also und das Zentrum eines europäischen
Kunstknotens. Eine Verstrickung, die bis zur Gegenwart anhält. Denn Ingold, der
Racine übersetzt, zitiert an anderer Stelle Georges Perros, über den noch zu
reden sein wird, und übersetzt natürlich auch folgendes Gedicht, das Racine
Daive widmete, der Celan übersetzt hat und dessen Gedichte in einer Übersetzung
Hamachers bei roughbooks erschienen sind. Hier das Gedicht Racines:
Im Grund ist es eine andere Art und Weiseein Gleiches zu schreibenFür Jean Daive, 1975
Dieses Gedicht, nah am Aphorismus, drückt in gewisser Weise,
ein poetisches Programm aus. Der Gedanke wird bis auf seine harte und innere
Struktur, bis auf sein Gerüst entkleidet und bleibt dann als Skulptur sichtbar.
Als filigrane Wortstruktur. Die Gedichte Racines treiben diese Reduktion auf
die Spitze. Das heißt aber nicht, dass mit den Wortbergen auch die Emotion
verschwände, es ist, als hätte sie sich von vornherein aufs innerste zurückgezogen
– ins Kristallwesen der Gedichte. Von dort strahlt sie:
Ich werde aus dem Tod erwachendas ist gewiss! Ich werde die Liniendie Bögen meines Gewebes querenwerde sie alle durchmessenwerde ganz ohne Schande seinich werde der Kurs sein und das Schiffich werde das voraussehende Wasser seindas Wasser, das jene sieht, die vorhanden sindIch werde nicht mit leerem Brotsack zugange sein