Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen
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Mario Osterland
Mehr Drama, weniger Licht
Simon Werles Neuübersetzung von Baudelaires „Blumen des Bösen“
150 Jahre nach dem Tod von Charles Baudelaire wird die lange Liste seiner deutschsprachigen Übersetzer um den Namen Simon Werle ergänzt. Mehr als einhundert Übertragungen der berühmten Fleurs du Mal, die meisten davon als Auswahl in Anthologien, Zeitschriften und Auswahlbänden, sind auf Deutsch erschienen.¹ Warum Werle eine weitere folgen lässt, deutet er in seinem Nachwort an, in dem er unter anderem die Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte des Lyrikklassikers zusammenfasst. Von Stefan Georges Klassizismus-Travestie ist da etwa die Rede, von Terese Robinsons „auf Wohlklang bedachter und inhaltlich glättender erster Gesamtübertragung“ oder Walter Benjamins stilistisch unausgewogener Experimentalübersetzung, die Baudelaire im Licht eines sozialen Revolutionärs erscheinen lassen sollte.
Kein Wort verliert Werle hingegen über die 1980 erschienene und inzwischen wohl weitestverbreitete Baudelaire-Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff, die in unterschied-lichen Ausgaben bei Reclam erscheint und 2011 einer gründlichen Neubearbeitung unterzogen wurde. Ihre auf sinngemäße, nicht wörtliche Genauigkeit abzielende, metrische Übertragung stellt noch immer einen mehr als einladenden Zugang zu Baudelaires Werk dar.
Erstaunlich, dass dennoch kaum ein Rezensent der Werle-Übersetzung auf Fahrenbach-Wachendorff eingegangen ist. Lediglich Rainer Moritz erwähnt sie knapp im Deutschlandfunk Kultur. „Man muss, um Wehrles [sic] Leistung zu würdigen, einen Blick in die weit verbreitete Reclam-Ausgabe von Monika Fahrenbach-Wachendorff werfen, um zu sehen, welcher Qualitätssprung Wehrle [sic] geglückt ist.“² Auch nach dem Lesen und Wiederlesen beider Übertragungen erschließt sich jedoch nicht, worin dieser Qualitätssprung bestehen, warum die eine Übersetzung besser oder schlechter sein soll.
Zugegeben, mit seiner auf wörtliche Genauigkeit bedachten Übertragung bei möglichster Beibehaltung des französischen Alexandriners, was natürlich nicht durchgehend funktioniert, gibt Werle den deutschsprachigen Lesern einen wesentlich dramatischeren Baudelaire zu lesen als Fahrenbach-Wachendorff.
Auch in den Begrifflichkeiten bekommt Baudelaire bei Werle mehr Drastik. Aus „Le cimetière immense et froid, sans horizon“ aus dem Gedicht Une gravure fantastique (LXXI), wird bei Werle beispielsweise „Das eisige, von Horizonten unbegrenzte Leichenfeld“, während es bei Fahrenbach-Wachendorff noch „über endlos kalte Totenäcker“ heißt. Ob die neue „sprachliche Gewalt“ (Rainer Moritz)³ jedoch automatisch dazu beiträgt, einen authentischeren Baudelaire zu lesen, bleibt fraglich. Denn gerade in Kenntnis von Nachworten und Übersetzungshinweisen ist anzunehmen, dass die Absichten des Pariser Dichters nicht auf morbide Schockeffekte, sondern auf die Ästhetisierung des Hässlichen und Abseitigen abzielten.
Hierzu der Vergleich zweier Gedichte aus der Abteilung Spleen et Idéal:
Baudelaire
LXX – Sépulture
Si par une nuit lourde et sombre
Un bon chrétien, par charité,
Derrière quelque vieux décombre
Enterre votre corps vanté,
À l'heure où les chastes étoiles
Ferment leurs yeux appesantis,
L'araignée y fera ses toiles,
Et la vipère ses petits;
Vous entendrez toute l'année
Sur votre tête condamnée
Les cris lamentables des loups
Et des sorcières faméliques,
Les ébats des vieillards lubriques
Et les complots des noire filous.
Werle
LXX – Begräbnis
Falls eines Nachts, schwarz und verhangen,
Ein guter Christ, der seinen Nächsten liebt,
Hinter Gemäuer, das zu Bruch gegangen,
Deinen gepriesenen Leib der Erde übergibt
Zur Stunde, da die keuschen Sterne eben
Ihr schweres Auge schließen, dass es ruht,
Wird dort die Spinne ihre Netze weben,
Und dort die Viper hecken ihre Brut;
Das ganze Jahr wirst du vernehmen
Zu Häupten dir, Opfer der Feme,
Der Wölfe jammerndes Geschrei
Und das von ausgezehrten Hexen,
Lustgreise, die nach Beischlaf lechzen,
Und finstrer Galgenstricke Büberei.
Fahrenbach-Wachendorff (1980)
LXX – Begräbnis
Wenn einst in einer Nacht voll dumpfer Schauer,
Ein Christ, von der Barmherzigkeit geleitet,
An einer alten halbzerfallenen Mauer
Deinem gerühmten Leib ein Grab bereitet,
Zur Stunde, da die Sterne keusch entschweben
Und müde ihre Augenlider senken,
Wird dort die Spinne ihre Netze weben,
Und eine Viper Jungen Leben schenken;
Da lauschst du dann jahraus, jahrein,
Wie über deinem Haupt, das büßt,
Die Wölfe lange klagend schrein
Und Hexen, die der Hunger frisst;
Wirst geile Greise schäkern hören
Und schwarze Gauner sich verschwören.
LXXII – Le mort joyeux
Dans une terre grasse et pleine d'escargots
Je veux creuser moi-même une fosse profonde,
Où je puisse à loisir étaler mes vieux os
Et dormir dans l'oubli comme un requin dans l'onde.
Je hais les testaments et je hais les tombeaux;
Plutôt que d'implorer une larme du monde,
Vivant, j'aimerais mieux inviter les corbeaux
À saigner tout les bouts de ma carcasse immonde.
Ô vers! noirs compagnons et sans yeux,
Voyez venir à vous un mort libre et joyeux;
Philosophes viveurs, fils de la pourriture,
À travers ma ruine allez donc sans remords,
Et dites-moi s'il est encor quelque torture
Pour ce vieux corps sans âme et mort parmi les
morts!
LXXII – Der fröhliche Tote
In einer fetten Erde schneckensattem Feld
Will ich mir selber eine tiefe Grube graben,
Um mein Gebein zu betten, wie es mir gefällt,
Um im Vergessen wie ein Hai im Meer zu schlafen.
Es sind mir Testament und Grabmal gleich verhasst;
Und lieber als um eine Träne mit der Welt zu rechten,
Lad ich, derweil ich leb, die Raben mir zu Gast,
Mein räudiges Gerippe Stück und Stück zu schächten.
O Würmer, Nachtkumpane, die ihr Ohr und Auge misst,
Seht einen Toten nahen, der frei und fröhlich ist;
Ihr Söhne der Verwesung, klug nach der Art des Epikur,
Durchfresst bedenkenlos meines Kadavers Weichen
Und sagt mir: Gibt's noch irgendwo eine Tortur
Für diesen Leib, entseelt und Leiche unter Leichen?
LXXII – Der lustige Tote
Ich will in fetter Erde voller Schnecken
Mir selber eine tiefe Grube wühlen;
Dort kann ich meine alten Knochen strecken,
Mich, wie ein Hai im Meer, vergessen fühlen.
Gräber und Testamente hasse ich;
Statt von der Welt mir Tränen zu erheischen,
Ruf ich die Raben lieber, schauerlich
Mich bei lebendigem Leibe zu zerfleischen.
O Würmer! Freunde, ohr- und augenlos,
Ein Toter kommt zu euch, frei und famos;
Ihr Lebenskünstler, der Verwesung Boten,
Mögt reulos euch durch meine Reste winden;
Und sagt mir, kann man auch noch Qualen finden
Für den entseelten Leib, tot unter Toten!
Werles Übersetzung ist also durchaus eine Leistung, die einen sinistren, ungeglätteten Baudelaire präsentiert. In Einzelfällen bleibt sie aber ebenso anfechtbar wie jede andere Übersetzung auch. Gleiches gilt leider auch für die Buchausgabe an sich, die zwar einerseits, im Vergleich zu Reclam, wirklich sämtliche für die Fleurs du Mal vorgesehenen, zensierten, wiederaufgenommenen und später entstandenen Gedichte vereint. Dafür gibt es andererseits leider keinerlei Materialien zur Werk- bzw. Textgenese, Anmerkungen oder die vom Autor entworfenen Vorworte und Verteidigungsschriften der Sammlung. Baudelaire-Enthusiasten kommen also auch in Zukunft nicht mit einer Ausgabe der Fleurs du Mal aus. Eine schöne, sinnvolle Ergänzung zum bisher Verfügbaren ist die Neuübersetzung Werles aber allemal. Wer hingegen mit dem schön gestalteten Band Baudelaire erst entdecken will, wird unmittelbar in einen sehr dunklen Sprachstrudel gerissen.
¹ Vgl. hierzu: Thomas Keck – Der deutsche „Baudelaire“. Heidelberg, 1991.
² http://www.deutschlandfunkkultur.de/charles-baudelaire-les-fleurs-du-mal-der-klassiker-neu-und.950.de.html?dram:article_id=392766
³ Ich zitiere dieses feuilletonistische Knallbonbon nur widerwillig. Pardon.
² http://www.deutschlandfunkkultur.de/charles-baudelaire-les-fleurs-du-mal-der-klassiker-neu-und.950.de.html?dram:article_id=392766
³ Ich zitiere dieses feuilletonistische Knallbonbon nur widerwillig. Pardon.
Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen. Gedichte. Deutsch. Neu übersetzt von Simon Werle. Reinbek (Rowohlt) 2017. 528 Seiten. 38,00 Euro.