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Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 6

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek


VI

DIE  ANNALEN  DES  KRIEGES




Bulgarien, die Türkei, die Krim, Spanien sind große Feste gewesen für die Augen des Herrn G., oder vielmehr des eingebildeten Künstlers, wie Herrn G. zu nennen wir übereingekommen sind; denn ich erinnere mich von Zeit zu Zeit daran, daß ich mir vorgenommen habe, um seine Bescheidenheit zu beruhigen, anzunehmen, daß er nicht existiere. Ich habe Einblick genommen in die Archive des Orientkrieges (mit düsteren Trümmern übersäte Schlachtfelder, Material-fuhrwerke, Verschiffen von Vieh und Pferden), lebendige und überraschende Gemälde, Abzüge vom Leben selbst, Bestandteile eines erlesenen Pittoresken, das viele Maler von Ruf, in die gleichen Umstände versetzt, leichtsinnig übersehen hätten; von diesen will ich jedoch gern Herrn Horace Vernet ausschließen, mit dem Herr G., der feinere Künstler, in erkennbarem Zusammenhang steht, wenn man ihn für nichts anderes ansehen will denn als Archivar des Lebens. Ich kann versichern, daß keine Zeitung, kein schriftlicher Bericht, kein Buch dieses große Epos des Krimkrieges so gut in all seinen schmerzlichen Einzelheiten und seinem unheilvollen Ausmaß ausdrückt. Das Auge spaziert der Reihe nach an den Ufern der Donau, an den Gestaden des Bosporus, am Kap Cherson, in der Balaklavaebene, auf den Feldern von Inkermann, in den englischen, französischen, türkischen und piemontesischen Feldlagern, in den Straßen von Konstantinopel, in den Lazaretten und den religiösen und militärischen Feierlichkeiten.
    Eine dieser Verfertigungen, die sich meinem Geist vorzüglich eingeprägt haben, ist die Weihe eines Schlachtfeldes in Skutari durch den Erzbischof von Gibraltar. Der pittoreske Charakter der Szene, der in dem Gegensatz der umliegenden orientalischen Natur mit den okzidentalen Stellungen und Uniformen der Anwesenden besteht, ist auf eine packende, anregende und Träume-schwere Weise wiedergegeben. Die Soldaten und die Offiziere haben diese unauslöschlichen Züge von gentlemen, entschieden und besonnen, die sie noch am Ende der Welt zeigen, sogar in den Garnisonen der Kapkolonie und den Niederlassungen in Indien: die englischen Priester erinnern entfernt an Gerichtsdiener oder Wechselmakler mit Baretten und Beffchen.
    Hier sind wir in Schumla, bei Omer Pascha: türkische Gastlichkeit, Pfeifen und Kaffee; alle Besucher sitzen aufgereiht auf Diwanen, setzen ihre Pfeifen, lang wie Blasrohre, an ihre Lippen, die Pfeifenköpfe ruhen zu ihren Füßen. Und hier die Kurden in Skutari, seltsame Truppen, deren Anblick an einen Einfall von Barbarenhorden denken läßt; und hier die Baschi-Buzuken, nicht weniger merkwürdig mit ihren europäischen Offizieren, ungarischen oder polnischen, deren dandyhaften Gesichtszüge eigenartig vom wunderlich-orientalischen Charakter ihrer Soldaten abstechen.
    Ich stoße auf eine herrliche Zeichnung, wo sich eine einzige Gestalt erhebt, mächtig, kräftig, von zugleich nachdenklichem, unbekümmertem und kühnem Aussehen; große Stiefel gehen ihm bis über die Knie; seine Militärkleidung ist verborgen unter einem schweren und weiten peinlich genau zugeknöpften Paletot; durch den Rauch seiner Zigarre betrachtet er den finsteren und nebligen Horizont; sein einer verwundeter Arm liegt in einer Halsschlinge. Unten lese ich die mit Bleistift gekritzelten Worte: Canrobert on the battle field of Inkermann. Taken on the spot.
    Was ist das für ein Reiter, mit weißem Schnurrbart, mit so lebendig gezeichneten Gesichtszügen, der, den Kopf erhoben, die schreckliche Poesie eines Schlachtfeldes in sich zu saugen scheint, während sein Pferd am Boden schnuppernd den Weg sucht durch die aufgehäuften Leichen, die Beine nach oben, die Gesichter verzerrt, in eigenartigen Stellungen? Unten in einer Ecke der Zeichnung kann man die Worte lesen: Myself at Inkermann.
    Ich erblicke Herrn Baraguay-d’Hilliers, mit dem Serasker, wie er die Parade der Artillerie in Bechichtash abnimmt. Ich habe selten ein Porträt eines Militärs gesehen, das ähnlicher, von kühnerer und geistvollerer Hand gemeißelt gewesen wäre.
    Ein Name, unglückselig berühmt seit dem Unheil in Syrien, bietet sich meinem Blick dar: Achmet-Pascha, Oberbefehlshaber in Kalafat, vor seiner Hütte stehend mit seinem Stab, läßt sich zwei europäische Offiziere vorstellen. Trotz des Ausmaßes seines türkischen Wanstes hat er in Haltung und Miene das bedeutende aristokratische Aussehen, das im allgemeinen den Herrschergeschlechtern eignet.
    Die Schlacht von Balaklava kommt mehrmals in dieser sehenswerten Sammlung vor und in verschiedenen Ansichten. Zu den auffallendsten gehört hier diese historische Kavallerieattacke, die die Heldentrompete von Alfred Tennyson, der Dichter der Königin, besungen hat: einen Haufen Reiter treibt es mit ungeheurer Geschwindigkeit fort zum Horizont zwischen schweren Geschützeswolken. Im Hintergrund ist die Landschaft durch eine Front grünender Hügel versperrt.
    Von Zeit zu Zeit lassen religiöse Gemälde das von all diesem Pulvergebrodel und mörderischem Ungestüm betrübte Auge ausruhen. Inmitten englischer Soldaten verschiedener Waffengattungen fällt die malerische Uniform der berockten Schotten ins Auge, ein anglikanischer Priester liest die Sonntagsmesse; drei Trommeln, deren oberste von den beiden anderen getragen wird, dienen ihm als Pult.
    In der Tat, es ist schwierig, dieses aus tausend Skizzen gemachte, so weitläufige und verwickelte Gedicht mit bloßer Feder wiederzugeben und den Rausch auszudrücken, der aufsteigt von diesem ganzen, oft schmerzlichen, doch nie rührseligen Pittoresken, aufgehäuft auf einigen hundert Seiten, von denen die verdorbenen und zerrissenen Blätter auf ihre Weise von dem Durcheinander und Getümmel reden, inmitten deren der Künstler darauf seine Erinnerungen verwahrte. Gegen Abend nahm der Kurier Herrn G.’s Notizen und Zeichnungen nach London mit, und so vertraute dieser der Post oft mehr als zehn auf dünnem Papier improvisierte Skizzen an, die die Graveure und die Abonnenten der Zeitung ungeduldig erwarteten.
    Mal zeigen sich Feldlazarette, wo selbst die Atmosphäre krank, traurig und schwer scheint; jedes Bett enthält dort ein Leid; mal ist es das Krankenhaus von Pera, wo ich einen Besucher in nachlässiger Kleidung sehe im Gespräch mit zwei Barmherzigen Schwestern, lang, bleich und gerade wie Gestalten von Lesueur, unterzeichnet von dieser eigenartigen Erklärung: My humble self. Jetzt ziehen langsam Tiere auf holprigen und gewundenen Pfaden, die übersät sind mit den Trümmern eines schon vergangenen Kampfes, Maultiere, Esel, Pferde, die an ihren Flanken in zwei groben Sesseln bleiche und reglose Verwundete tragen. Auf weiten Schneeflächen schleifen, von Tataren geführt, Kamele mit majestätischer Brust, mit hoch erhobenem Kopf allerlei Proviant und Munition: es ist eine ganze lebendige, geschäftige und stille Kriegswelt; es sind Lagerplätze, Basare, wo sich alle Sorten von Vorräten ausbreiten, eine Art für die Gelegenheit improvisierter Barbarenstädte. Durch diese Lagerhütten, auf diesen steinigen oder schneebedeckten Wegen, in diesen Engpässen, bewegen sich Uniformen verschiedener Nationen, mehr oder weniger beschädigt durch den Krieg oder entstellt durch die Hinzufügung mächtiger Pelze oder groben Schuhwerks.
    Es ist schade, daß dieses Album, das nunmehr an mehrere Orte verstreut ist und dessen kostbare Seiten von den mit ihrer Wiedergabe beauftragten Graveuren und den Redakteuren der Illustrated London News zurückbehalten worden sind, nicht vor die Augen des Kaisers gekommen ist. Ich kann mir vorstellen, er hätte gefällig, und nicht ohne Rührung, Leben und Taten seiner Soldaten in Augenschein genommen, alle sorgfältig dargestellt, von Tag zu Tag, von den glänzendsten Taten bis zu den alltäglichsten Beschäftigungen des Lebens, durch diese so sichere und verständige Soldatenkünstlerhand.


Zu Teil 7: Festzüge und Feierlichkeiten »

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