Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 4
Charles Baudelaire
Der Maler des modernen Lebens
Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61
Übersetzt von Werner Wanitschek
IV
DIE MODERNITÄT
So geht, rennt, sucht er. Was sucht er? Mit Sicherheit hat dieser Mann, wie ich ihn geschildert habe, dieser mit einer tätigen Einbildungskraft begabte Einsiedler, stets auf Wanderschaft durch die große Menschenwüste, ein höheres Ziel als das eines reinen Umherstreichers, ein allgemeineres Ziel, ein anderes als das flüchtige Vergnügen der Gelegenheit. Er sucht dieses Etwas, das man uns die Modernität zu nennen erlauben möge; denn es bietet sich kein besseres Wort an, um den in Frage stehenden Gedanken auszudrücken. Für ihn geht es darum, von der Mode das freizulegen, was sie an Poetischem im Historischen enthalten mag, das Ewige aus dem Vergänglichen zu gewinnen. Wenn wir einen Blick auf unsere Ausstellungen moderner Gemälde werfen, sind wir verblüfft durch die allgemeine Tendenz der Künstler, alle Personen in historische Kostüme zu kleiden. Fast alle bedienen sich der Moden und Möbel der Renaissance, wie David sich der römischen Moden und Möbel bediente. Indessen besteht dieser Unterschied, daß David, indem er vor allem griechische und römische Gegenstände wählte, nicht anders konnte, als sie antik zu kleiden, während die jetzigen Maler, die Gegenstände von allgemeiner, auf alle Zeiten anwendbarer Art wählen, sich darauf versteifen, sie mit Kostümen des Mittelalters, der Renaissance, des Orients aufzuputzen. Das ist offenbar das Zeichen einer großen Faulheit; denn es ist viel bequemer zu erklären, alles sei vollkommen häßlich an der Kleidung einer Epoche, als sich darum zu bemühen, aus ihr die geheimnisvolle Schönheit zu ziehen, die in ihr enthalten sein kann, so gering oder unbedeutend sie sei. Die Modernität, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist. Für jeden alten Maler hat es nur eine Modernität gegeben; die meisten schönen Porträts, die uns aus den früheren Zeiten geblieben sind, sind mit den Kostümen ihrer Epoche bekleidet. Sie sind vollkommen harmonisch, das Kostüm, die Frisur und sogar die Gebärde, der Blick und das Lächeln (jede Epoche hat ihre Haltung, ihren Blick und ihr Lächeln) bilden ein Ganzes einer vollkommenen Lebenskraft. Dieses vorübergehende, flüchtige Bestandteil, dessen Verwandlungen so häufig sind, zu verachten oder darauf zu verzichten haben Sie nicht das Recht. Indem Sie es verdrängen, fallen Sie zwangsläufig in die Leere einer abstrakten und unbestimmbaren Schönheit, wie jener der einzigen Frau vor der ersten Sünde. Wenn Sie das zwingend gebotene Kostüm der Epoche durch ein anderes ersetzen, begehen Sie eine Sinnwidrigkeit, die nur im Fall einer durch die Mode gewollten Maskerade entschuldigt werden kann. So sind die Göttinnen, Nymphen und Sultaninnen des XVIII. Jahrhunderts moralisch gesehen ähnliche Porträts.
Es ist zweifellos vorzüglich, die alten Meister zu studieren, um malen zu lernen, doch kann dies nur eine überflüssige Übung sein, wenn Ihr Ziel ist, das Wesen der gegenwärtigen Schönheit zu verstehen. Die Gewänder von Rubens oder Veronese lehren Sie nicht, Moiré-antique, Satin à la reine oder jeden anderen Stoff aus unseren Werkstätten darzustellen: zurückgeschlagen, Reifrock-schwingend, oder die Musseline-gestärkten Unterröcke. Gewebe und Köper sind nicht die gleichen wie in den Stoffen des alten Venedigs oder den am Hof von Katharina getragenen. Fügen wir auch noch hinzu, daß der Schnitt des Rocks und des Mieders vollkommen verschieden ist, daß die Falten nach einem neuen System angeordnet sind, und schließlich daß Bewegung und Haltung der heutigen Frau ihrem Kleid ein Leben und einen Ausdruck verleihen, die nicht diejenigen der früheren Frau sind. Mit einem Wort, damit jede Modernität würdig sei, Antike zu werden, ist es nötig, daß die geheimnisvolle Schönheit, die das menschliche Leben unwillkürlich dareinlegt, daraus zutage gefördert werde. Diese Aufgabe ist es, der sich Herr G. im besonderen widmet.
Ich sagte, jede Zeit habe ihre Haltung, ihren Blick und ihre Bewegung. Vor allem in einer umfangreichen Porträtgalerie (diejenige von Versailles zum Beispiel) wird es leicht, diese Behauptung zu überprüfen. Doch kann diese noch weiter reichen. In der Einheit, die man Nation nennt, stellen die Berufe, die Klassen, die Jahrhunderte die Verschiedenheit dar, nicht allein in den Sitten und Handlungen, sondern auch in der tatsächlichen Gesichtsbildung. So eine Nase, so ein Mund, so eine Stirn füllen den Zeitraum von einer Länge aus, die zu bestimmen ich hier nicht vorhabe, die sich aber sicher berechnen läßt. Solche Überlegungen sind den Porträtisten nicht zur Genüge vertraut; und die große Schwäche von Herrn Ingres im besonderen ist, jedem unter seinem Auge Modell stehenden Typus eine mehr oder weniger komplette, dem klassischen Begriffsrepertoire entlehnte, Vervollkommnung aufzwingen zu wollen.
Bei so einem Gegenstand wäre es leicht und sogar legitim, a priori zu urteilen. Die ständige Wechselbeziehung dessen, was man die Seele, mit dem, was man den Körper nennt, macht sehr gut deutlich, wie alles, was materiell oder Ausfluß des Geistigen ist, immer das Geistige, von dem es sich herleitet, darstellt und darstellen wird. Wenn ein geduldiger und sorgfältiger Maler, doch von mittelmäßiger Einbildungskraft, der eine Kurtisane der heutigen Zeit gemalt hat, inspiriert wird (das ist das übliche Wort) von einer Kurtisane Tizians oder Raphaels, ist es äußerst wahrscheinlich, daß er ein unwahres, zweideutiges, unklares Werk machen wird. Das Studium eines Hauptwerks jener Zeit und jener Art wird ihn weder die Haltung, noch den Blick, noch die Verstellung, noch den Haupteindruck eines dieser Geschöpfe lehren, die das Wörterbuch der Mode fortwährend eingeordnet hat unter groben oder scherzhaften Bezeichungen wie Unreine, unterhaltene Mädchen, Loretten und Hirschkühe.
Die gleiche Kritik trifft uneingeschränkt zu auf das Studium des Militärs, des Dandys, selbst des Tieres, Hund oder Pferd, und von allem, was das äußere Leben eines Jahrhunderts ausmacht. Wehe dem, der in der Antike etwas anderes studiert als die reine Kunst, die Logik, die allgemeine Methode! Wenn er sich zu tief hineinversenkt, verliert er die Erinnerung an die Gegenwart; er verzichtet auf den Wert und die Vorzüge, die der Umstand bietet; denn fast unsere ganze Originalität kommt von dem Stempel, den die Zeit unseren Empfindungen aufdrückt. Der Leser versteht im voraus, daß ich meine Behauptungen leicht an zahlreichen Gegenständen, außer der Frau, beweisen könnte. Was würden Sie zum Beispiel von einem Marinemaler sagen (ich treibe die Hypothese auf die Spitze), der, obwohl er die nüchterne und elegante Schönheit des modernen Schiffes wiederzugeben hat, seine Augen überanstrengte, um die überladenen, verdrehten Formen, das gewaltige Heck des alten Schiffes und die komplizierte Besegelung des XVI. Jahrhunderts zu studieren? Und was würden Sie von einem Künstler halten, den Sie damit beauftragt hätten, das Bildnis eines Vollbluts zu machen, berühmt auf den Feierlichkeiten der Rennbahn, wenn er seine Betrachtungen in den Museen einsperren wollte, wenn er sich damit begnügte, das Pferd in den Gemäldegalerien der Vergangenheit, an Van Dyck, Bourguignon oder Van der Meulen zu studieren?
Herr G., geführt von der Natur, tyrannisiert durch den Umstand, hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Er begann damit, das Leben zu betrachten, und sann erst spät darüber nach, das Leben auszudrücken. Daraus entstand eine packende Originalität, in welcher was daran an Barbarischem und Naivem bleiben mag wie ein neuer Gehorsamsbeweis dem Eindruck, eine Schmeichelei der Wahrheit gegenüber erscheint. Für die meisten von uns, vor allem für die Geschäftsleute, in deren Augen die Natur nicht existiert, es sei denn in den Nützlichkeits-zusammenhängen mit ihren Geschäften, ist das reale Unwirkliche des Lebens eigentümlich stumpf. Herr G. nimmt es ohne Unterlaß in sich auf; Gedächtnis und Augen sind ihm voll davon.
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