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Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, 2

Memo/Essay > Aus dem Notizbuch > Essay


Charles Baudelaire

Der Maler des modernen Lebens

Figaro. 26 et 29 novembre, 3 décembre 1863 (F) – fertig 1860/61

Übersetzt von Werner Wanitschek


II

DIE  SITTENSKIZZE



Für die Sittenskizze, die Darstellung des bürgerlichen Lebens und die Schauspiele der Moden, ist das flinkeste und billigste Mittel offenbar das beste. Je mehr Schönheit der Künstler in sie legt, um so kostbarer wird das Werk sein; doch es gibt im gewöhnlichen Leben, in der Alltagsmetamorphose der äußeren Dinge, eine schnelle Bewegung, die dem Künstler eine gleiche Ausführungsgeschwindigkeit befiehlt. Die mehrfarbigen Gravuren des XVIII. Jahrhunderts haben erneut die Gunst der Mode erlangt, wie ich soeben gesagt habe; Pastell, Radierung, Kupferstich haben wechselweise ihren Beitrag geleistet zu diesem gewaltigen Wörterbuch des modernen Lebens, welches verstreut in den Bibliotheken, den Mappen der Liebhaber und hinter den Scheiben der gewöhnlichsten Läden liegt. Sobald die Lithographie erschien, erwies sie sich sofort als sehr geeignet für diese ungeheure, scheinbar so leichtfertige, Aufgabe. Wir haben in dieser Gattung wahre Denkmale. Zu recht hat man die Werke von Gavarni und Daumier Ergänzungen von Die menschliche Komödie genannt. Balzac selbst, davon bin ich vollkommen überzeugt, wäre gesonnen gewesen, sich diese Idee zu eigen zu machen, die um so richtiger ist, als das Talent des Künstlers als Sittenmaler ein Talent von gemischter Art ist, das heißt, wozu ein gut Teil literarischer Geist gehört. Beobachter, Spaziergänger, Philosoph, nennen Sie ihn wie Sie wollen; doch, um diesen Künstler zu charakterisieren, werden Sie sicher nicht umhin können, ihn mit einem Eigenschaftswort zu bedenken, das Sie nicht anwenden würden auf den Maler der ewigen, oder zumindest länger haltbaren Dinge, der heroischen oder religiösen Dinge. Manches Mal ist er ein Dichter; häufiger nähert er sich dem Romancier oder dem Moralisten; er ist der Maler der Gelegenheit und von allem, was sie an Ewigem hervorruft. Jedes Land hat, zu seinem Vergnügen und Ruhm, einige dieser Männer besessen. In unserer gegenwärtigen Zeit kann man zu Daumier und Gavarni, die ersten Namen die einem einfallen, Deveria, Maurin, Numa hinzufügen, Historiker der zweideutigen Reize der Restauration, Wattier, Tassaert, Eugène Lami, dieser fast Engländer durch seine große Liebe für die aristokratischen Zierlichkeiten, und sogar Trimolet und Traviès, diese Chronisten des ärmlichen Lebens.


Zu Teil 3: Der Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind »

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