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Chaim Noll: Kolibri und Kampfflugzeug

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Jan Kuhlbrodt

Zu Chaim Noll



Der Band heißt Kolibri und Kampfflugzeug, und man könnte meinen, wenn man in meinem Alter ist, er entführte in die lateinamerikanische Revolutionsromantik der Siebziger und frühen Achtziger Jahre, als wir uns aus dem dumpfen Staub der DDR in den südamerikanischen Dschungel träumten, uns Bärte wachsen ließen und Baskenmützen trugen. Aber eben das macht der 1954 als Sohn des Ostdeutschen Großschriftstellers Dieter Noll geborene Dichter nicht.

Nolls Gedichte beschreiben einen anderen Weg. Ihr Ausgangspunkt ist schon ein Westberlin, er hat die DDR 1984 verlassen, und später ein Gesamtland, das mühsam damit beschäftigt war, mit und gegen die eigene Geschichte eine Identität zu zimmern.
An dieser Zimmerei beteiligt sich Noll nicht. Zu groß ist schon die Entfremdung zur einstigen Heimat, die wahrscheinlich nie Heimat war.

Als sei die Wolke zu niedrig geflogen
mit durchhängendem rosa Bauch



(Berlin, August 1989)


Losgelöst die Sprache und in ihr bewahrt lyrische Formen. Und das ist wohl auch das, was mich an diesen Texten so anzieht. Die Bewahrung der sprachlichen Form bei gleichzeitigem Abstreifen der Nationalismen. Und vielleicht liegt auch hier nur die Möglichkeit, überhaupt zu bewahren. Im Gedicht Dabeisein, geschrieben in Neapel 1995, bestätigt sich das auf paradoxe oder vielleicht sogar auf dialektische Weise:

Dabeisein

Der ältere Plinius
bat seinen Neffen ihn zu begleiten
um den Untergang von Pompeji
mit anzusehen
den feuerspeienden Vulkan
aus nächster Nähe.
Der neue Schnellsegler
modernste Technik
machte es möglich
dabei zu sein.

Der jüngere lehnte dankend ab
blieb zu Hause er wollte
seine Studien nicht unterbrechen
Wir kennen die Geschichte
nur wegen seiner Weigerung:
der Onkel kehrte nie zurück


Wobei man sagen muss, dass das an Brecht geschulte Gleichnishafte dieses Textes nicht repräsentativ ist für Nolls Arbeit am Gedicht. Dennoch könnte man es als eine Art Motto sehen. Nolls Weg geht von Berlin weg über Italien in die Negevwüste in Israel, das er, wie auch schon in seinen Romanen, als multikulturell zeigt. Noll entwickelt hier aus der ursprünglichen Berliner Entfremdung heraus eine erstaunliche Offenheit.

Zeilen aus aller Welt
auf meinem Tisch Gedanken
mit der Ferne vernetzt
wie lange noch bleibt

das nahe Gewebe
eine Kulisse
schwebend
zwischen Himmel und Sand?

a45

Aber Noll entwirft kein Idyll. Der andauernde Nahostkonflikt ist in seinen Gedichten sehr gegenwärtig. Sowohl als landschaftsverändernder Prozess wie im Gedicht: Landschaft mit Schießstand, als auch als Bedrohung jeglicher Utopie:

Stille am ersten Tag des Friedens

Die Luft leer
zart blauer
makelloser
Himmel

gibt vor
der Himmel
jedes neuen Tags
zu sein

die Ruhe
die er birgt
ein schöner
Schein


Im Buch sind Reproduktionen von 22 Kaltnadelradierungen von Sabine Kahane abgedruckt. Sie verfolgen den Gang in die Wüstenlandschaft als Weg in eine bestimmte Abstraktion, ein bildlicher Reflex eines überzeitlichen religiösen Momentes, das sich mit Nolls Spiritualität verbindet.


Chaim Noll: Kolibri und Kampfflugzeug. Gedichte. Berlin (Verbrecher Verlag) 2015. 140 Seiten. 21,00 Euro.

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