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Caroline Stern: Kein So·nett

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Timo Brandt

Die Sache beim Namen nennen

Geht es darum in der Lyrik? Die Sache beim Namen zu nennen?


Ich kann mich an meine erste Begegnung mit einem Gedicht (das kein Abzählreim war oder schulischen Gesichtspunkten unterlag – ich rede von einem Gedicht, das auf etwas hinauslief, das zwar erst durch seine Worte in Sicht geriet, nach dem ich aber schon lange immer wieder unbewusst getastet hatte, so fühlte es sich an) nicht erinnern. Aber es gibt da eine Vermutung in mir dahingehend, dass diese erste Begegnung so folgenschwer war, weil der Zusammenhang, den dieses Gedicht (meiner Ansicht nach) offerierte, mir sehr vertraut schien, einleuchtend und aufschlussreich, während es einen ungewöhnlichen Pfad des (Be)nennens einschlug, der mir völlig neu war. Natürlich habe ich auch schon Gedichte gelesen, die mir auch vom Zusammenhang her völlig neu waren, also inspirierende Gedichte – aber immer war da eine Stimme in mir, die sofort sagte: ja, so kann er genannt werden, dieser Aspekt, den ich nun kenne.

Worauf ich, denke ich, hinauswill, ist ganz einfach, dass Lyrik die Dinge nicht beim Namen nennt, sondern die vielen Namen der Dinge zeigt. Gedichte veranschaulichen, dass ein Wort aus einem Wortschatz von 500.000 nicht ausreicht, um eine bestimmte Art von etwas zu beschreiben, für das wir einen allgemeinen Oberbegriff festgelegt haben (zumindest nicht auf dem direkten Weg der Einteilung). Es gibt Liebesgedichte, und sie handeln alle mehr oder weniger von Liebe. Aber in diesen Gedichten werden spezifische Momente abgebildet, die wir im Bereich einer Emotion, einer Klassifizierung namens Liebe verorten, die aber letztlich über das hinausgehen, was der Begriff, als Benennung, erfassen kann.

Es gibt eine Anekdote, in der ein Mann zu einem Weisen kommt und ihn fragt: Was ist Liebe? Der Mann antwortet: Du kommst mit einer Frage, einem Wort und einem Gefühl. Der Worte kann ich dir viele geben und sie mögen gemeinsam eine Antwort bilden. Aber was du suchst, ist doch ein anderes Gefühl, in jemand anderem oder in dir selbst, oder nicht?
 
Ich glaube, dass Gedichte in der Lage sind, Gefühle zu simulieren, darzustellen. Aber nicht in dem sie sagen: Liebe. Zumindest nicht dies allein. Um eine Regung, eine Emotion, eine Idee von einem Gefühl anzuberaumen, zu transportieren, muss ein Gedicht einen anderen Pfad einschlagen – der letztlich immer im Ballungsraum eines größeren Begriffes liegen wird, weil diese Begriffe nun mal die Platzhalter sind, die wir in die tagtäglichen Gleichungen einsetzen, mit deren Hilfe wir hoffen, unsere Emotionen zu verstehen; obwohl diese Platzhalter aufgerundete Werte sind und eigentlich das meiste, das zwischen ihnen liegt, nicht absolut in ihnen verortet werden kann.

„Ich bin erschöpft vor Anmut
Leben tut schön weh.
Und ich empfinde
das Wort
Weltschmerz
dialektisch.“

Ich bitte diese lange Vorrede zu entschuldigen. Ich komme nun zu den Gedichten von Caroline Stern, die in dem Band „Kein So·nett“ versammelt sind (der mit „Die frühen Gedichte“ untertitelt ist). Über diese Gedichte will ich zu Anfang feststellen, dass sie eben jene Pfade, die ich in der Vorrede angedeutet habe, selten oder gar nicht einschlagen. Anders gesagt: Diese Gedichte legen es meiner Ansicht nach zu sehr darauf an, Dinge beim Namen zu nennen und sind zwar mitunter schöne Schilderungen, lyrisch angehauchte Zusammenfassungen von Lebensstationen, Seins-Momenten, aber sie gelangen selten zu einem Punkt, an dem von einer Verdichtung, einer lyrischen Konzentration zu reden wäre. Sie wirken überstürzt, rekapitulieren ständig, versessen darauf, dieses Rekapitulieren zu bannen, anstatt ihm einfach Ausdruck zu verleihen.

„Wo hört die Liebe auf?
Wo fängt der Wahnsinn an?
Jenseitig der Schmerzgrenze
war ich in Deinem Bann.“

Hinzu kommt, dass die Auswahl der Gedichte unausgegoren, teilweise fahrlässig wirkt. Gerade die frühsten Gedichte (die Reihenfolge ist chronologisch, und die ersten Gedichte stammen aus der frühen Teenagerzeit der Autorin) mögen zwar als private Zeugnisse von Verliebtheit und einer Auseinandersetzung mit der Welt einen hohen Stellenwert für die Autorin haben, aber sie schwächen das Gesamtbild und erschweren den Start. Oft sind diese Texte noch ganz klar Fingerübungen, ungelenk und manchmal sehr nah an dem, was man gelegentlich „lyrische Ergüsse“ nennt. Es wäre klüger gewesen, diese frühen Texte wegzulassen, bis auf zwei oder drei, die schon Substanz haben.

„Zukunft nennt sich also Grauen
Ins Dunkle werde ich nun schauen
Will nicht mehr essen, trinken, tanzen
Mich töten nur mit tausend Lanzen.“

Insgesamt hätten ein Lektorat und Kürzungen dem Band gutgetan. Auch weiter hinten tauchen immer wieder Gedichte auf, die eher Fingerübungen gleichen, die Späße sind. Solchen Texten hätte man einen separaten Band einräumen oder sie in einer bestimmten Rubrik unterbringen sollen (obwohl ich den eigenen Band für die bessere Lösung halte; bei den Gesammelten Gedichten (Suhrkamp) von James Joyce stehen die wunderbaren Chamber Music-Stücke neben den teilweise eher peinlichen Spottgedichten, was wirklich seltsam wirkt, trotz der Kapitelunterteilung). So stehen Liebeskummergedichte neben Reimereien, Selbstauslotungen neben Flachwitzen. Würde dies alles zumindest illustriert oder begleitet von einem Kommentar, einer Konzeption – aber es wurde einfach alles auf einen Haufen geworfen.

„Geheime Wünsche, ihr seid alle da.
Nicht weinen, ihr kommt alle dran.
Meine Liebe ist das Einzige,
was ich geben kann, Welt!“

Das ist wirklich traurig, denn es ist nicht so, dass Caroline Stern nicht hier und da ein paar Zeilen lang brilliert; manche Wendung ist grazil, ist gelungen, ist gut. Wenn sie beispielsweise am Anfang eines Gedichts über den Vater schreibt

„Du meißelst dem Kind einen Mund
& legst dich hinein ·

Verworren wächst Draht
in die Augen.

Sie kämmt und trennt an der Wurzel:
am Ohr, in der Brust ·

Deinen Raum entfernt sie
vom Herzen
& die Schwelle blitzt blank“
          
dann ist das stark, vor allem die ersten beiden Zeilen, die einen Pfad für das restliche Gedicht schlagen.

Überhaupt sind Sterns Gedichte dort noch am stärksten, wo die Autorin über sich schreibt, was sie erleidet oder erfreut. Es gibt auch Gedichte, in denen sie etwas umtreibt, das ganz deutlich nicht ihrem Erfahrungshorizont entstammt, sondern schlicht als Thema gewählt wurde. Manche dieser Gedichte legen leider eine (teilweise groteske) Naivität und Simplizität an den Tag.

Dann wiederum gibt es Selbstzeugnisse wie dieses:

„Als Teenager schlief ich
drei oder vier Jahre lang.

Allergisch auf meine eigenen Träume,
bekritzelte ich selbst meine Haut.

Alles war mir zu kalt
und viel zu leblos –
ich masturbierte vor Angst.
[…]
Meine Seele hatte in etwa
die Form eines Flip Flops.“             

Den ganzen Band könnte man als Selbstzeugnis lesen. Hier erzählt sich jemand in Gedichten die eigene Geschichte, an welcher die Leser*innen mal mehr, mal weniger teilhaben können. Manches ist berückend, vieles bleibt auf bekannten Pfaden, trampelt Erfahrungen, Emotionen fest, die ich (und wohl auch andere) durchaus kennen und nachvollziehen können, mitempfinden, aber es fehlt dieser Moment, wo etwas dich anspringt, sich etwas zwischen zwei absehbare Augenblicke schiebt und auftut, in neue Richtungen, in denen wir die alten Kontexte auch finden. Aber wir können endlich mal wieder dahin aufbrechen, mit neuer Energie, neuen, erweiterten Vorstellungen. Eine neue Reise kann auch im Bekannten die Perspektive verschieben; Reisen erweitern Horizonte, selbst wenn sich hinter den Horizonten wieder die alten Fragen auftun.

Caroline Stern setzt meist auf Extreme, auf einfache Vermittlung, auf unentschlossene Verdich-tungen. Das ist selten eine gute Mixtur. Doch es gibt ein paar starke Momente – genug, dass sie noch stärker wirken würden, wenn man ihnen allein die Bühne gegeben hätte.


Caroline Stern: Kein So·nett. Die frühen Gedichte. (Books on Demand) 2018. 152 Seiten. 9,99 Euro.
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