Caroline Hartge: Chronologische Diffusion
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Stefan Heuer
Caroline Hartge: Chronologische Diffusion. Gedichte 2012–2020.
Hamburg (Edition Michael Kellner) 2023. 132 Seiten. ISBN 978-3-933444-30-1. 19,99 Euro.
wale und menschen verschlafen hitze, frost und wind im sand –
ausgewählte
Gedichte von Caroline Hartge
»Die Caroline«, so fragte mich kürzlich ein Freund am Rande seiner
Buchpremiere, »schreibt die eigentlich noch?«
Was für eine seltsame Frage, dachte ich. Sie
ist Lyrikerin mit jeder Faser, und solange sie lebt, wird sie schreiben, wird
sie sich mit Wörtern beschäftigen. Und in diesem Moment wurde mir wieder mal
bewusst, dass so vieles passiert, gerade in der Literatur oder den bildenden
Künsten, ohne dass es überhaupt wahrgenommen wird. Während einige Autorinnen oder
Autoren in der Tagespresse und in den sozialen Medien dermaßen präsent sind,
dass man pausenlos mit ihnen konfrontiert wird, während manche von ihnen ihre aktuellen
Bücher mehrfach täglich posten oder facebook & Co. dafür nutzen, öffentlich
Auszeichnungen einzufordern (Modell Trump: Wenn ich die Wahl nicht gewinne,
dann war es Betrug), arbeiten andere unter jedem Radar.
Eine von diesen seit mehreren Jahrzehnten hart
an der Wahrnehmungsgrenze arbeitenden Autorinnen ist die von meinem Freund
erwähnte Caroline Hartge. Während sich andere in öffentlichen Diskussionen
aufreiben, zu allem eine Meinung haben und diese ebenso ungefragt wie lautstark
kundtun, arbeitet Caroline Hartge beharrlich und in aller Stille an dem, was
einst als ihr "Werk" bezeichnet werden wird.
Das erste Gedicht von Caroline Hartge las ich 1997 in der Anthologie "Social
beat, slam!poetry: die Ausserliterarische Opposition meldet sich zu Wort".
Von 1998 bis heute erschienen 13 Einzelbände, und dies in überaus schöner
Aufmachung und bei ambitionierten Verlagen wie Peter Engstler oder dem
Buchlabor Dresden, "Asche", 2001 beim Verlag Peter Engster war dann
der erste Gedichtband, den ich von ihr las und in Ausgabe 37 der Zeitschrift S.U.B.H.
kurz vorstellte. In der Einleitung der damaligen Rezension ging ich auf ein freund-schaftlich
geführtes Geplänkel mit meinem damaligen Deutsch-lehrer ein, welches sich um die
Frage des Unterschieds zwischen Gedichten und Lyrik drehte. Seinen
Erläuterungen zufolge sei die Lyrik die (Zitat:) edelste Form des Gedichtes,
welche sich nicht nur durch Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere, son-dern in
erster Linie durch eine "lyrische" Wortwahl auszeichne.
Sollten die von Herrn Förster angeführten Kriterien
tatsächlich maßgeblich sein, so wären die Gedichte in Hartges neuem, Anfang
2023 bei der in Hamburg beheimateten Edition Michael Kellner erschienenen Band "Chronologische
Diffusion – Gedichte 2012-2020" wohl tatsächlich Lyrik ... ernsthaft und lyrisch,
das trifft schon zu, vor allem aber: wortspielerisch, wortverliebt, assoziativ,
um keine Silbe verlegen und ab und zu mit religiösem Einschlag, was eventuell
ihrer zeitweisen Tätigkeit als Laienpredigerin geschuldet sein mag:
lose aneinanderzweihände:ich grüße dichich danke dirich bete
Der religiöse Aspekt ist jedoch nicht so präsent, dass er einen
Atheisten vom Lesen abhalten sollte. Vielmehr findet sich in vielen Gedichten, neben
Märchenhaftem, ein Dialog mit unbedingt weltlichen Wesen: mit Partnern, mit
Lieben und Tieren, nicht zuletzt mit sich selbst; immer getrieben von Neugier
und der Bereitschaft, diese zu stillen:
ich tauche meine hand ins wasser:ob es vielleicht hier fische gäbeim wasser taucht die frage unternach einer weile zart kühl sehrsachte lippen an meiner hand
Gefühltes Kernstück dieses Buches und zugleich mein Lieblingsgedicht
ist "tal der wale":
der bringer der freude zieht alle geschosse an sich:die götter geben ihre güter keinem faulender große und der kleine bruder zieht meere und länder an sein herzsie steigen und fallen und heben und senken sich: atemwas kümmerts, wenn mich hunde anbellen, sagt er
es ist nicht lange her; wie wäre es vorbei.mag die achse sich jetzt anders neigenund was du meidest wüste seindu kannst hier sein wie immer du auch bistein dampf ein fluss ein eis
in steinernen schluchten reißt es menschen davonkrokodile überdauern in verschatteten seenjemand türmte muschelstein zu pyramidenversteinerte wurzeln bezeichnen beträumen ufersäumewale und menschen verschlafen hitze frost und wind im sandjemand malte giraffen und flusspferdemenschen die schwimmenund die das wasser freundlich trägt
Ein hervorragendes Druckbild und die Aufmachung in schlichter Eleganz
runden die harmonische Erscheinung dieses Buches ab. Ein Geschenk, wie es ein
jeder Lyrikfreund nur zu gerne ge-schenkt bekommt – jetzt braucht es nur noch
einen, der was zu feiern hat … – so
beendete ich damals meine Besprechung zu "Asche", und auch zur "Chronologischen
Diffusion" kann das so stehen bleiben.