Carolin Callies: teilchenzoo
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Andreas Hutt
Carolin Callies:
teilchenzoo. Poem. Frankfurt a.M. (Schöffling & Co.) 2023, ISBN:
978-3-89561-4477. 144 Seiten. 22,00 Euro.
In Kernnähe
Eines der
Kennzeichen der Postmoderne mag darin bestehen, dass Texte nicht den Anspruch
erheben, Gegenwart klar nachvollziehbar beschreiben und interpretieren zu
wollen. So gesehen sind Carolin Callies‘ Gedichte in ihrem neuen Band
„teilchenzoo“ postmodern. Ihnen liegt die Idee zugrunde – wie der Klappentext
aufklärt –, dass „die kleinsten Teilchen der Welt […]
zu uns sprechen könnten.“ Was diese Teilchen zu sagen hätten, bildet den Corpus
der Gedichte.
Angelegt ist der
Band als ein Langgedicht, das aus 64 mit römischen Zahlzeichen nummerierten
Einzeltexten besteht, denen wiederum 64 mit derselben Zahl versehene
Spiegel-gedichte zugeordnet sind. Insgesamt liegen also 27 = 128
Texte vor. Der Zyklus beginnt mit dem Gedicht
O
fährst
du uns der kernnähe zu?
und endet mit
O
hier
ist kernnähe.
hier
sind wir.
Auf diese Weise
ergeben sich eine formale und eine inhaltliche Klammer für den gesamten Band.
Die kleinsten
Teilchen sprechen also zu den Leserinnen und Lesern, und in diesem Sprechen
charakterisieren sich selbst. Sie schreiben sich Eigenschaften zu („wir sind
schüchtern“, S. 9; „wir sind unser eigenes getreidefeld“, S. 15; „was waren wir
waben“, 48) und offenbaren sich in ihrem Handeln. („ja, heute tun wir alles in
einen topf“, S. 25 oder „wir liegen unterm kissen & essen an dir.“, S. 59).
Dabei greifen sie auf Vokabular aus der Natur („berg“, „margueriten“,
„schneckengehäuse“) und der Körperlichkeit („schnabel“, „hals“, „bauch“)
zurück. Darüber hinaus finden Wörter aus Kultur und Gesellschaft Eingang in die
Gedichte („königsdisziplin“, „protestantisch“, „grabenkämpfe“). Dominiert
werden diese Selbstzuschreibungen vom Personalpronomen „wir“ und der beinahe
inflationären Verwendung des Wortes „&.“ So entstehen Gedichte von großer
Dynamik und Sinnlichkeit, deren Entschlüsselung im Hinblick einer herkömmlichen
Sinnzuschreibung allerdings kaum möglich ist, – vermutlich selbst dann, wenn
man die Quellen studiert, die Carolin Callies bei der Arbeit an diesem Band zur
Verfügung gestanden haben.
Die Teilchen sprechen durch den Mund der Autorin zu den Leserinnen und Lesern. Sie verwenden menschliche Begriffe und nutzen diese in menschlichen sprachlichen Fügungen. Hier zeigt sich, dass die Schreibintention von Carolin Callies, die kleinsten Teilchen sprechen zu lassen, nicht mehr als eine initiale Inspiration für die Abfassung dieses Bandes sein kann. Benjamin Whorf lässt grüßen.
IIIfarnwedelartige gebilde aus polymer & büschelaus dem tausendsten teil deiner haars. was sich aufden fingern niederlässt & dünne blättchen bildet &was auf den fingern bleibt & wandert & was derspreißel im finger ist, dünn an der unterwand, diewir sind & ein schmerz in den kammern & wirdringen in uns selbst ein & unseren nichtessbarenkern nennen wir heute noch knoten & knochen &fett & um das weichverflochtene dunkel, weil esdarunter licht & schwebende mondmilch &wundmilch & wandgestein & der ast bricht durchdie haut & durchdringt unseren finger von innen &hat er schon moos an der außenseite angesetzt, dringter durch, weil nur hier gewachsen werden kann &weil das der einzige nährboden ist, den er findet &sind wir der nährboden deiner sämereien & dieverästelung & das auswachsen aus unserem finger, einschmerz & sind gefüllt mit salziger suppe wie harzso zäh & überlegen uns strategien zur fortbewegung.wie kommen wir nur fort von hier?
Der gesamte Band
„teilchenzoo“ ist als ein sorgfältig arrangierter Zyklus angelegt, d.h. die
Reihung der Prosagedichte, in denen sich eine Familie von Teilchen
charakterisiert, wird durchbrochen von Kurzgedichten, konkreter Poesie oder
einem Prosaeinsprengsel wie „Hallo.“ Dadurch wird Monotonie vermieden, den
Texten eine Prise Humor hinzugefügt sowie für den Band Ausdrucksmöglichkeiten gewonnen,
die sich im Prosagedicht nicht hätten realisieren lassen.
Wenn man die
Gedichte von Carolin Callies liest, befindet man sich in einem
Rezeptionsprozess, der vielleicht ebenfalls als typisch für die Postmoderne
angesehen werden kann. Die Texte lösen sich vom inspirierenden Moment, das dem
Schreiben der Autorin zugrunde lag. Sie emanzipieren sich vom Realitätsbezug,
sind in der Welt und stehen als Gedichte für sich. Die Autorin ist diejenige,
die mit Hilfe der Gedichte eine Initialzündung für die Leserinnen und Leser
vorbereitet, – derart, dass die Texte zu Sprachmaterial werden, das die
Leserinnen und Leser irritiert, anregt und eigene Gedanken induziert. Oder
anders ausgedrückt: Der eigentliche Text entsteht im Rezeptionsprozess in den
Köpfen der Rezipierenden. Mehr als Denkanstöße können die Texte nicht sein, es
sei denn, es gelänge einer akribischen Forschung nachzuweisen, welches Gedicht
welcher Gruppe von Teilchen zugeordnet werden kann, um den Übersetzungsprozess
der Autorin rückgängig zu machen, aber wäre so etwas nicht ein großer Verlust?