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Carolin Callies: fünf sinne und nur ein besteckkasten

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Alexandru Bulucz

Ein Besteckkasten & nur fünf Sinne.


Zu Carolin Callies’ Gedichtband fünf sinne & nur ein besteckkasten



Speichel, Spucke, Schweiß, Blut, Urin, Kot: Das Vokabular der hier zu besprechenden Gedichte kennt keine Schamgrenzen. Tränen fließen nicht. Wer darauf beharren möchte, dass es in Carolin Callies Debüt fünf sinne & nur ein besteckkasten nicht schön zugeht, hat womöglich recht, wurde aber in gewisser Hinsicht schon vor fast zweihundert Jahren widerlegt: „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist, das Gefühl, dass Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.“ (Büchners Lenz)
    Der poetische Abriss des Körpers, den Callies wagt, ist sowohl als Frage nach dem Wesen des Körpers, das heißt nach seiner Körperlichkeit, als auch im Sinne einer Dekonstruktion des Körpers zu verstehen. Es braucht nicht den Blick auf den ironischen, als Motto fungierenden Satz des französischen Philosophen Michel Serres, um bei der Lektüre der Gedichte früh zu erkennen, dass der Hintergrund der Poetik Callies’ ein philosophisch-dekonstruktivistischer ist: „Die Konstruktion des Körpers gleicht der Erfindung des Einhorns.“ Man tut vielleicht gut daran, Callies mit George Bataille, Jean-Luc Nancy und Hélène Cixous zu lesen, wobei es sehr bedauerlich ist, dass man, um ein zeitgenössisches Werk wie das von Callies literaturkritisch zu vermitteln, noch immer Begriffe wie ‚Obszönität‘ oder ‚Tabu‘ bemühen muss. Schließlich ist das, was hier auf dem Spiel steht, von je her natürlich. Warum sollte man etwas zu enttabuisieren versuchen, was kein Tabu sein dürfte?

    Für Callies gibt es weder den Körper an sich noch den Körper überhaupt. Der Körper, ob der animalische oder der menschliche, ist bei ihr der Körper in Abgrenzung zum anderen Körper, zu anderen Körpern (oder zum Anderen des Körpers, zur, nennen wir es der Kürze halber, Seele). Daher verwundert es nicht, dass fast jedem Gedicht ein Du oder ein Wir eingeschrieben ist. Sich mit dem eigenen Körper vertraut machen, zu ihm stehen, kann nur derjenige, der an seiner Seite jemanden hat, der dazu steht. Nicht um eine Relativierung geht es hier, nicht darum, dass man akzeptiert, wie der andere ist, sondern darum, dass der andere ist. „feldforschnes material“ (aus „schindung, somatisch“) ist der Zugang zum Anderen. Und um an diesem Material zu arbeiten, muss man sich stets in einen fremden Lebensraum begeben, gleichgültig, ob man über den Partner mehr erfahren möchte, mit dem man gemeinsam wohnt, oder über jemanden am anderen Ende der Welt.

    Selbst „körpereigenes material“ (aus „vorhof halbseiden“) ist im Zusammenhang mit der Frage nach der Körperlichkeit und einer eigenen, über den anderen sich konstituierenden Identität fremdes Territorium.

„nous opposons la conscience de l‘événement au gratuit (encore un mot de déféqué)“


Diese Stelle aus René Chars Aufzeichnungen aus dem Maquis übersetzt Paul Celan wie folgt: „setzen wir das bewusste Erkennen des Geschehenden wider das Voraussetzungslose (wieder so ein Entleerungs-Wort)“. Auch in Callies Gedichten hat man es mit Entleerungen und somit mit Entleerungs-Worten und -Wörtern zu tun: „einfach öffnen & organschmiere rausholen“ (aus „schublade), „wenn etwas sich tagtäglich öffnet, wie blütenkelche es tun, / dann entzündet sich’s rasch. hast du den roggen gesehen? / da ist noch was zuenes übrig / & die koppel im schatten liegt lang. // […] du schaffst neues körpermaterial“ (aus „gesichtswaage“). Was hier veranschaulicht wird, ist das ständige Sich-trennen vom eigenen Körper, der ständige Aufschub der Identifizierung mit ihm und schließlich das Leben als Summe all jener Kräfte, die sich dem in den Tod mündenden körperlichen Zerfall widersetzen: „jetzt fehlt mir der wille (…) zum gehorchen der körperöffnungen & der sehnenstränge“ (Eingangsgedicht). „für einen makelsamen körper“ (aus „fleischgeworden, ein figurenensemble“), für jeden Körper also, ist wenig zu tun, was ihm vor dem Absterben bewahrte. Auf uns alle wartet dasselbe. Das hat etwas Fatalistisches, aber auch etwas Tröstliches. Wir sind nicht allein.
    Und trotz aller täglichen Entleerung (im Anbetracht des Körpers als Gefäß), dieser natürlichsten aller menschlichen  Bedürfnisse – und das Sprechen ist nichts anderes – lagert sich wie Kalk immer wieder etwas ab, das zu einer modernen Geschichte des Menschen und seines Körpers collagiert werden kann: „erzählen vom schweiß als vollem gefäß“ (aus „der körper ist ein geschichtenband“), „die augen bleiben behältnis“ (aus „dir & dem feuchten“), „das ist so schränken eigen: sich zu füllen und zu leeren“ (aus „fossiles & das erreichen des fassungsvermögens“).
    Durch das, was sich einem bei der Lektüre der Gedichte von Callies erschließt, wird man an den Rand seines Fassungsvermögens gedrängt. Insofern hätte der Gedichtband genauso gut ein besteckkasten & nur fünf sinne heißen können. Das Spektrum der (ästhetischen) Wahrnehmung findet sich nirgends ausgeweiteter als in diesem Debütband, dem man mit seinen fünf Sinnen eigentlich nicht nachkommen kann, geschrieben in einer exzessiven und frechen Sprache, mit viel Witz und Experimentierfreude und dem ein oder anderen kalauernden Ritt.


Écriture feminine?


Selbst bei den Frankfurter Lyriktagen, die kürzlich stattgefunden haben, wurde danach gefragt, ob es so etwas wie „weibliche Verse“ gibt. Zugegeben, bei manchen Gedichten Callies’ tendiert man zur Überlegung, das hätte ein männlicher Dichterkollege so nicht schreiben können. Die Hinweise reichen aber nicht aus, um diese Überlegung fortzusetzen. Hélène Cixous würde in diesem Zusammenhang von der „écriture feminine“, der weiblichen Schrift sprechen. Bei der Auslegung der Gedichte Callies’ wäre es aber vielleicht angemessener, von der Weiblichkeit in der Schrift, ob männlich oder weiblich, zu sprechen: „wir zögerten nie, uns mit blut zu bewerfen / & boten uns gar ganze zyklen von an“ (aus „zwei enden eines jedweden stranges“). Cixous dazu: „Die Frau lässt sich gehen, sie fliegt, sie geht ganz und gar in ihre Stimme ein; mit ihrem Körper unterstreicht sie die Logik ihrer Rede, ihr Fleisch sagt die Wahrheit. Sie exponiert sich. Tatsächlich materialisiert sie fleischlich, was sie denkt, sie bedeutet es mit ihrem Körper.“ Und weiter: „Frauenstürmerisch sind wir, was unser ist, löst sich von uns ab, ohne dass wir fürchten dadurch geschwächt zu sein. Unsere Blicke ziehen davon, unser Lächeln läuft, das Lachen all unserer Münder, unser Blut rinnt und wir verströmen uns ohne uns zu erschöpfen.“ (Beide Zitate aus „Das Lachen der Medusa“.) Es ist nicht eindeutig zu sagen, wie es in dieser Hinsicht um die Gedichte von Callies bestellt ist. Sicher ist nur, hier spricht eine selbstbewusste Stimme, die, wenn man sich auf sie einlässt, mit Haut und Haar einlässt, einen berührt. Und auch dann ist man berührt, wenn man peinlich berührt wird – ein Punkt, an dem man merkt, wie schwer die christliche Moral noch immer auf unseren Schultern lastet.
    „wir ziehn die linien wieder“ (aus „sich konturieren können“) heißt es gegen Ende des Bandes, „zieh die linie in dein fleisch“. Darauf wurde hingearbeitet. Aber am Ende des Buches geht es einem so, als wäre jegliche Neukonturierung des Körpers unmöglich geworden. Glücklicherweise. Was übrigbleibt ist ein dialogisches Verhältnis jenseits von Geschlechterkörpern. Nicht um eine Verschmelzung der Geschlechter geht es hier, sondern um etwas Diesseitiges, in dem etwas – nennen wir doch das Wort – Unendliches schlummert. Und das zieht sich auch durchs Fleisch, berührt, rührt um, rührt auf, um auch Jean-Luc Nancys Begrifflichkeit anzustrengen.
    In ihrem Debüt verlangt Callies dem Körper alles ab: „mehr kann man von einem körper nicht verlangen“ (aus „zollstock“). „Ich verlange in allem Leben“, sagt Lenz. Selbst im Toten findet Callies ein solches: „die gehängten neigen einander die häupter, / als gehörten sie zu wem, / als wären sie ihren eigenen hälsen fremd“ (aus „der kopfgeldjäger rät zu hälsen“).


Carolin Callies: fünf sinne & nur ein besteckkasten. Gedichte. Frankfurt am Main (Schöffling & Co.) 2015. 112 Seiten. 18,95 Euro.

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