Carmen Achter, Gerald Fiebig: mixtape. ein wintermärchen
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Carmen Achter, Gerald Fiebig
mixtape. ein wintermärchen
immer dieselbe schallplatte
aus der familiendiskothek:
33/45/–
hängenbleiben. von
generation zu generation
überspielen &
durchmischen mit besatzermusik.
aber das magnetband deiner
kassetten
hat die i.g. farben
erfunden, & zweimal 45
gibt 89. mauerfall, der
historische bandschleifen-
vorfall.
am anfang des bandes war
noch
ein echo der zukunft zu
hören. aber /fortschritt/
ist keine schallplatte. er
dreht sich nicht im kreis.
er ist eine kassette, die
langsam vorwärts
leiert & schnell wieder
rückgespult wird,
aber nie bis ganz an den
anfang.
& das ist das ende der
geschichte,
die immer mittendrin
beginnt:
ab in den schacht, du
orpheus der arbeiterklasse.
die seele: ist eine eher
traurige angelegenheit.
wenn nichts mehr zu gewinnen
ist
dann wird sie stillgelegt,
als schaubergwerk genutzt
oder verfüllt
endlager für schwach
strahlendes material.
ab in den schacht mit der
kassette, smalltown boy*
lauf lieber weg. schau, wo
die zukunft strahlt,
werd kommunarde, sing: dein
lied.
oder lass es dir singen von
platten aus erdöl
& plastik. nimm es auf
durch die ohren
& auf magnetband, durch
öffnen & schließen
der kunststofflippen gegen
das verschwinden gesichert.
was war zuerst da: dein lied
oder du? i palindrome i,
eine geschichte mit zwei
seiten, die vorwärts
& rückwärts laufen kann
& sich manchmal
auf verwickelte weise selbst
verschlingt: innereien
auf stimmbandsalat,
angerichtet im plastikgehäuse,
das eine /identität/ macht
aus magnetisierten partikeln:
my mind is like a plastic bag
ich & du
wir sind partikel
wir tanzen im wind
wir schwimmen im meer
wir beherrschen die welt
bunt & austauschbar
du & ich
wir haben viel gemein
in dich & mich passt
alles rein:
wir müssen nichts verstehn
wir treffen uns am
müllcontainer
wir feiern uns
ich & du
produkte der beschleunigung
ein für den moment gemachtes
stück ewigkeit, rasch
konsumierbar
[schaden bleib, du bist so
schön]
wir beherrschen die welt
your mind is like a plastic case
das ist keine kunst – aber
aus kunststoff.
when you get out -- of the hospital:
so große krankenhäuser gibt
es gar nicht
& nicht so große
bäckereien,
dass uns das noch retten
könnte.
nicht so große gefängnisse
& nicht so große armeen.
das sind jetzt alles
co-working-spaces,
in denen freiwillige sich zu
versuchszwecken
der /blasenbildung/
aussetzen.
i palindrome i
ein sich selbst
verschlingendes ungeheuer,
das immer wieder sein
eigenes gesicht erbricht
kindergärten und kliniken:
alles ist einfacher,
wenn kein tunnel darunter
ist.
also, ihr früchtchen der
freiheit:
heine? -- oder hamas.
die signalqualität wird
nicht automatisch besser
wenn an die stelle der
kassette eine playlist tritt,
vor allem, wenn diese
playlist heißt:
free palestine from german guilt:
verlor’ner posten in dem freiheitskriege
um die schuld
die geschichte: ist ein
ständig unterdrückter
& hervorbrechender
rauschzustand, auch im
digitalen speichelmedium,
dem das von den alt-
vorderen altnazis vorgekaute
zum hals herauskommt.
der algorithmus spielt sich
ab bis zum erbrechen.
sein /fortschritt/ ist eine
abwärtsspirale in
endlosschleife, die nicht
einmal mehr eine schleife
ist.
die kassette dagegen [ab in
den schacht]
kann zum schweigen gebracht
werden mit zwei
streifen tesafilm &
einem löschkopf,
a tapehead eating the
head on the opposite side.
& dann: ist alles offen.
& das: ist nicht das
ende der geschichte.