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Carl-Christian Elze: William und der Fliegenkönig

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Monika Vasik

Carl-Christian Elze: William und der Fliegenkönig. Kinderbuch ab 5 Jahren. Mit Bildern von Nele Brönner. Berlin (Voland & Quist) 2025. 64 Seiten. 18,00 Euro.

Über das Glücken von Beziehungen


Das Genre Kinderbuch wird von der Kritik oft stiefmütterlich behandelt. Selten findet man über Kurzkritiken hinausgehende Besprechungen im Zeitungsfeuilleton oder auf literarischen Plattformen. Dabei sind es jene Bücher, die Kindern die Freude am geschriebenen und gezeichneten Wort vermitteln und die Begeisterung für Literatur zu wecken imstande sind oder eben nicht. Es ist zu begrüßen, dass sich nun auch ein Kinderbuch auf der Signaturen-Liste der zu rezensierenden Bücher fand. Carl-Christian Elze hat 2010 gemeinsam mit der Schweizer Schriftstellerin Lisa Elsässer den ersten Lyrikpreis München gewonnen. Er ist als Dichter mit mehreren Lyrikbänden an die Öffentlichkeit getreten, hat zudem u.a. Erzählungen sowie den Roman Freudenberg vorgelegt, der 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Mit seiner jüngsten Publikation wendet der Schriftsteller sich nun erstmals dem Genre Kinderbuch zu und legt mit William und der Fliegenkönig eine so zauberhafte wie vergnügliche Geschichte für Menschen ab fünf Jahren vor. Es ist ein heutiges Märchen, in dem die Motive Verwandlung, Zauberkraft und Traum eine zentrale Rolle spielen.

Hauptfigur ist der sechsjährige William, der noch nicht lesen kann, aber bald in die Schule kommen wird. Seine Eltern sind Sprachmenschen, die Mutter Lehrerin für Deutsch und Sport, der Vater Schriftsteller. Sie streiten oft, was William traurig macht, doch er kann weder mit ihnen noch mit seinem älteren Bruder Paul darüber sprechen.
Eines Tages sieht er beim Spielen eine goldgrün glänzende Fliege, deren seltsame Flugbewegungen ihm auffallen. Sie kann sprechen und klagt ihm ihr Leid. Sie heiße ebenfalls William, sei der König der Goldfliegen, nämlich der einhundertvierundzwanzigste William in der Erbfolge. Und sie sei nicht nur sehr durstig, sagt sie, sondern eines ihrer Schwingkölbchen habe sich verrenkt, ein Sinnesorgan, das der Flugsteuerung diene, weshalb sie nicht mehr ordentlich fliegen könne. Der Junge wundert sich nur kurz, dass er sich mit einer Fliege unterhalten und jedes ihrer Worte verstehen kann. Nachdem er ihr Wasser gebracht und sie sich satt getrunken hat, lässt die Fliege ihre Zauberkräfte wirken und verkleinert ihn mit seinem Einverständnis. Er klettert auf den Rücken des Insekts und gemeinsam fliegen sie durchs Wohnzimmer. Dabei folgt er ihren Anweisungen und renkt ihr Schwingkölbchen wieder ein. Dann erzählt er, dass er traurig sei, weil seine Eltern häufig streiten. Sie zeigt ihm einen Weg, wie er sich ihnen, solange er so winzig ist, verständlich machen und ihnen endlich von seinem Kummer erzählen kann.
Was dieses Kinderbuch auszeichnet, ist die Sorgfalt, mit der es gestaltet wurde. Da ist zum einen die kindgerechte Geschichte von knapp 60 Seiten Umfang, die von Zugewandtheit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft erzählt und wie nebenbei die Themen Behinderung, Alter und Generationenfolge anspricht. Der Text ist in vier Kapitel geteilt, was ihn sowohl zum Vorlesen praktikabel macht, weil man ihn in kleinere Leseeinheiten teilen kann, als auch als Geschichte zum Selberlesen. Da sind zum anderen die sprechenden Bilder von Nele Brönner. Brönner, die bereits Carl-Christian Elzes Lyrikband Panik/Paradies (Verlagshaus Berlin 2023) illu-strierte, ist selbst Kinderbuchautorin und hat für die Phantasiewelt des aktuellen Buchs eine sensible Zeichensprache entwickelt. Deutlich werden mit wenigen Strichen die veränderten Größenverhältnisse oder die Wirren in Williams Gefühlswelt, etwa seine Freude, seine Zweifel oder Momente der Unbehaglichkeit, wenn er auf der Goldfliege durch die Luft schwirrt.

Verwandlungen sind ein beliebtes Motiv und ein Zeichen der Macht in märchenhaften Geschichten, sei es die Verwandlung in ein anderes Lebewesen (etwa in Märchen der Brüder Grimm wie Der Froschkönig, Schneeweißchen und Rosenrot oder Brüderchen und Schwesterchen) oder die Veränderung eines Körpers durch Verkleinern oder Vergrößern. Die Verwandlung schafft Möglichkeiten und stößt Einsichten an. Es gibt fast immer ein gutes Ende durch das Wunder der Rückverwandlung, wenn die Aufgabe erledigt oder die Läuterung vollzogen ist. Ein ebenfalls wichtiges und beliebtes Motiv ist die plötzliche Verständigung über Sprach- und Artgrenzen hinweg. Carl-Christian Elzes Geschichte ähnelt jener von Nils Holgersson und seiner Reise mit den Wildgänsen, verfasst von der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf. Auch Nils reitet auf einem Tier, dem zahmen Gänserich Martin, der sich den Wildgänsen anschließt, und kann mit den Gänsen sprechen. Er war zum Zeitpunkt der Verwandlung jedoch bereits 14 Jahre alt und wurde zur Strafe zu einem winzigen Wichtel, weil er Tiere quälte. William hingegen ist erst 6, fasziniert von der Schönheit seiner Goldfliege und denkt allein daran, wie er ihr helfen kann. Er erkennt, dass er mit seinen großen Fingern nichts ausrichten wird, weshalb er mit seiner Verkleinerung sofort einverstanden ist. Der Junge weiß zwar, dass sein Bruder Paul Fliegen wie die seine bloß „Scheißhausfliege“ nennt. Er ahnt zudem, will es aber lieber nicht so genau wissen, mit welchem Stoff sie ihn an ihren Rücken geklebt hat, damit er im Flug nicht herunterfällt. Das Aufkommen von Ekel wird durch sein zugeneigtes Interesse neutralisiert.

Ein drittes Motiv ist der Traum. In Märchen dienen Träume dazu, Verbindungen zu einer anderen Welt zu schaffen. Sie können Ausdruck von Wünschen oder Ängsten sein, die die Hauptperson beschäftigen, vermitteln Einsichten und helfen, Entscheidungen zu treffen. Hat William sein Abenteuer mit der Goldfliege also vielleicht nur geträumt? Ende des ersten Kapitels heißt es: „Dann schloss er die Augen.“ Zuvor hat allerdings bereits eine längere Unterhaltung von Kind und Fliege stattgefunden, die Verkleinerung Williams steht kurz bevor. Im vierten Kapitel wiederum sagt der Vater zu ihm: „... du hast einen prima Mittagsschlaf gemacht.“ Elze überlässt es der kindlichen Phantasie zu entscheiden, ob William wirklich eingeschlafen ist und alles nur träumt, ob das Gespräch mit der Fliege und die Verwand-lungsgeschichte dessen wacher Phantasie entspringt oder ob er sie wirklich erlebt. Wichtig ist allein, dass die Beziehung zur Fliege beider Probleme löst. Denn William findet mit ihrer Hilfe eine Möglichkeit, mit den Eltern über seine Ängste zu sprechen. Und die Fliege kann am Schluss, nachdem ihr Schwingkölbchen repariert und ihre Aufgabe getan ist, wieder zu ihren Untertanen ins Fliegenreich zurückkehren.


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