Carl-Christian Elze: von flughäfen und geisterbahnen (Auszug)
 
						Carl-Christian Elze
von flughäfen und geisterbahnen 
(Zyklus 1-11, Auszug)
1
die erde ist ein kugelförmiges raumschiff, mit einhundertundsieben-
tausend kilometern pro stunde kreist sie um einen brennenden 
gasball wie eine mücke um ein teelicht in einem 
windstillen, schwarzen wald. dabei liegen unsere frisuren
die frisuren von ektoparasiten, wundersam still 
auf unseren kugelförmigen köpfen. 
auch unsere augen sind kugelförmig: sie blicken umher 
ohne windschutzscheiben. wären da nicht diese interstellaren 
bullen, die uns blitzen und abkassieren
weil wir in unseren automobilen mit 65 statt 50 kilometern pro stunde 
unterwegs waren, obwohl wir einhundertundsiebentausend 
drauf hatten, wir hätten weniger zu lachen
und unser lachen rast um die sonne, wie wahnsinniger 
glücklicher staub. 
2
ich denke an die zerbrechlichkeit aller körper:
ein gespenst in meinem kopf, ein sich wälzender igel
ein rasender maschinenschmerz! wenn wir früh aus dem haus 
gehen, sich unsere wege trennen, nur für stunden
für einen tag .. wie leicht werden es unzählige stunden
unzählbare tage. wir sollten uns anschauen, jeden morgen 
und jeden abend, als würden unsere maschinen 
schon auf der anderen straßenseite eine kleine schraube 
verlieren, und sofort einstürzen .. 
aber dieser blick wäre unerträglich, jeden morgen 
und jeden abend, zu jeder zeit wäre unser lachen verschenkt
für einen dürren gedanken, für einen sich wälzenden igel
für einen ganz überflüssigen schmerz vielleicht. 
wir müssen anders blicken! halb vergessen .. aber nicht ganz
nicht ganz vergessen .. aber wie? .. sag mir wie?
 
3
unsere mütter haben uns auf einem flughafen ausgesetzt
ohne gepäck, blutig und nackt, entkabelt.
einige haben sofort geschissen, klebrig und schwarz
so schwarz, als wäre der teufel aus uns herausgetreten
und so klebrig, als könnten wir niemals mehr schweben
was so nicht stimmt – wir schweben sofort
mit einem arsenal von grausamkeiten, auf einem flughafen
der selber schwebt. – unser flughafen ist gefüllt 
mit ländern, städten und winzigen flughäfen, die nur 
vom namen her flughäfen sind, in wirklichkeit: 
flitzende punkte, obwohl worte wie flitzende punkte
in wirklichkeit nirgendwo sind, nur teilchen, schwebende 
teilchen, die schwingen, ununterbrochen schwingen
solange wir warten in form von lose zusammengefügten
relativ kurzen, sprechenden stäbchen, warten 
auf unseren einzigen flug, der uns abstürzen lässt
und unsere gehirne zurücknimmt; nicht in die engen schöße 
unserer mütter, die längst morsch geworden sind
aber in die vorschöße; zwischen die schenkel 
einer hoffentlich gut aussehenden
uralten, mädchenhaften
planetaren 
dame.  
4
sie feiern die auferstehung des herrn, denn sie sind selber
voller angst – ausgeschwitzt aus gehirnen, voller wunder.
das wunder der angst ist das quälendste wunder: 
jeder kopf wünscht sich kuchen, und findet nur krümel 
unterm tisch .. aber wer an diesem tisch sitzt 
und isst, und was auf diesem tisch steht, um gegessen 
zu werden, ob es eine tischdecke gibt, und mit welchem 
muster darauf, ob es eine vase gibt, und mit welchen blumen 
darin, ob es überhaupt jemanden gibt, an diesem tisch
der isst und sich in blumen vertieft und in muster
bleibt unerblickbar. – nur ein ängstliches tier 
sitzt gebeugt unterm tisch, unter der mächtigen platte
die keinen strahl durchlässt, nur krümel
oder vermeintliche krümel, fallen herunter, in schluchten 
augen picken sie auf, zitternde spatzen
doch angekommen im innern eines knöchernen schädels 
verwandeln sich alle lichtbrechungen und elektrischen 
codierungen all dieser krümel, oder vermeintlichen krümel 
in immergleiche, unentschlüsselbare, süße
todbringende speisen, die immer nach unten fallen
immer nach unten, und niemals nach oben zurück –  
Aus Carl-Christian Elze: diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde. Gedichte. Verlagshaus Berlin, 2016. 160 Seiten, 13.90 Euro. (www.belletristik-berlin.de)
 
 
