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Carl-Christian Elze: panik/paradies

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Stefan Hölscher

Carl-Christian Elze: panik/paradies. Gedichte. Illustrationen: Nele Brönner. Berlin (Verlagshaus Berlin) 2023. 196 Seiten. 22,90 Euro.

Eine Mischung aus Vielem


Das Paradies ist ein wunderbarer, alle Wünsche zugleich erfüllender Ort. Es ist die Abwesenheit aller schlechten Gefühle und aller nicht befriedigten Bedürfnisse. Es ist, um es mit Goethe zu sagen, die ultimative Einladung zum: „Verweile doch! Du bist so schön!“ – Das absolute Gegenmodell dazu ist eine uns in extreme Hastigkeit und Kopflosigkeit versetzende, alles übersteigende Angst: die Panik. Und Panik ist das, was im neuen, im Verlagshaus Berlin erschienen Gedichtband von Carl-Christian Elze, schon vom Titel her mit dem Wort „Paradies“ untrennbar verbunden ist: panik/paradies. Was vielleicht ein Paradies hätte sein können, ist ein Ort des Panischen geworden: unser Leben – unsere Welt.

Elzes Gedichte sprechen von eben diesem panik/paradies, und sie tun dies in fast barocker Fülle. In thematischer Fülle, wie es auch schon im Klappentext des Buches heißt: „Kindheit und Kindheitserinnerung, Familie und Ehe, Liebe und Entfremdung, Tier-Mensch-Beziehungen, Geschichte und wie wir sie erzählen; Politik und ihre Auswirkung auf unser Selbstbild und die Bilder, die wir von anderen haben.“ Die Texte präsentieren sich jedoch gleichermaßen auch in formaler Fülle, was ebenfalls schon der Klappentext ankündigt: „Es muss doch eine Sprache geben, die die existenziellen Fragen zu fassen vermag? Terzinen, Sonette, Balladen, Zyklen, Listen, Gebete, Beschwörungen. Elze breitet das Besteck des Dichters in fast verzweifelter Vielfalt aus.“

Während die meisten Gedichtbände heutzutage ja ziemlich schlank daherkommen, oft gerade mal gut 70 Seiten umfassen und auch vom formalen und inhaltsbezogenen Scope her zumeist recht spezifiziert sind, bietet Elze in panik/paradies – fast möchte man sagen – alles. Alles ist nun tatsächlich viel, aber Carl-Christian Elze kann auch viel.

Elze kann Terzine:

vertrau zu sterben, lern die erde
solang du augen hast, verneige
schwestern, brüder: glas und berge

kein andrer pfad zurück ins weite
vertraue sprung, die stirne runter
im kleinen becken, weg die scheibe

viel zu gewinnen, der alte plunder
wie weggefegt, der schmerz entstromt
reich ohne kopf, noch nie gesunder

bleibt auch zurück der trauerdom
am bett, die blassen zitterkinder,
ist nichts, worin sich lange wohnt

kommen alle an im teilchenwinter
nah an der sonne, muttergas
strömen alle an, galaxisrinder

vergessen welt und grünes gras.

Elze kann Sonett:

schön nur im stillstand im schlaf
nackte tiere gebunden versunken
alle worte gefesselt im elektrischen gras
alle kriege versickert, im kopf ungefunden.

was auch für träume in den körpern schreddern
die hand bleibt weich: kein rot, kein grind
kein bein marschiert, die sägeblätter
stehn still im laken, nur ein fetzen wind

kriecht durch die fenster, kühlt die zähne.
der schlaffe mund einen spaltbreit offen steht
ein kleiner schuppen jetzt, dem nichts mehr fehlt

kein himmelbett, kein landgewinn, die masterpläne
verstaubt im rattennest, die kleinen schnauzen
im wärmestrom, die sterne sausen.

Elze kann Liste:

to-do-liste für die neuen herrscher der welt nach dem ende der menschen
(ausgedruckt von einem halb zerstörten HP Officejet Pro 8600
auf befehl eines verlassenen computers)

die tiere befreien aus ihren fabriken
das erdöl befreien aus ihren fabriken
den kernstab befreien aus ihren fabriken
die fabriken befreien aus ihren städten
die städte befreien aus ihren ländern
die länder befreien aus ihren grenzen
die gegenstände befreien aus ihren häusern
die häuser befreien aus ihren straßen
die straßen befreien aus ihren netzen
die flugzeuge befreien aus ihrem himmel
der nur geborgt war, nicht mal geborgt!...

Elze kann Satire:

heut nacht schmilzt trump im weißen haus
schmilzt weg im bett wie alter reifen
geföhnter rattenschiss, auf einmal stau
im hass-account, geruch von seifen…

Elze kann Absurd:

ertaste nichts, dann plötzlich schleifen
sehr klein am zäpfchen baumelnd wie der liebe gott
oder kompott abseits der abschluckschneisen…

Elze kann Komik:

auch superhelden wohnen hier
zum beispiel rotzman alphatier
im erdgeschoss im fensterloch
die spucke tief in rotzman kocht
mit gelben superspeicheldrüsen
bereit fürs superdüsenfliegen
rotzt rotzman dann aus allen rohren
das böse mit den großen ohren…

Elze kann Ernst:

das kind wäscht sich
wäscht sich jeden einzelnen finger
wäscht sich mehrmals jeden einzelnen finger
eine minute, zwei minuten, schrubbt sich
seine rauen rissigen hände wie ein großer chirurg.
aber was will es operieren, das kind?...

Elze kann Trauer:

dein verschwinden
begann so langsam
dass ich es nicht gleich bemerkte

dann nahm er fahrt auf, dein kleiner körper
beschleunigte
und fuhr gegen die wand.

inkontinenz, taubheit, blindheit
eine nulllinie im
elektroretinogramm

dein kopf, der überall anstößt
noch im vertrautesten zimmer
dein kompass zerkratzt…

Und Elze kann noch sehr viel mehr, wie sich auf den knapp 200 Seiten des Buches mit seinen 10 Kapiteln zeigt. Alle Kapitel heißen übrigens „CAPUT“, gefolgt von einer der römischen Ziffern zwischen I und X. „Caput“ für lateinisch „Kopf“ oder auch metonymisch „Mensch“, wobei man hier vielleicht auch zusätzlich noch ganz lautbezogen „kaputt“ assoziieren darf: kopf/ mensch/kaputt. Das grundsätzlich Kaputte oder eben Panische des vielleicht-mal-theoretisch-visionär-phantasierten Paradieses durchzieht die Texte des Bandes ähnlich wie auch ihre immer wieder ironisch-komisch-absurde Brechung. Es ist, als ob das barocke Vanitas-Motiv zusammen mit einer virtuosen poetischen Eloquenz, die einen bisweilen an Peter Rühmkorf erinnern könnte, in zeitgenössischer Gestalt zusammenfinden, wobei Elzes Texte nie geschraubt, sondern immer flüssig klingen. So als wären sie überwiegend auch in einer Art poetischem Flow entstanden (und dann natürlich vielfach überarbeitet und verfeinert worden).

Trotz ihrer kunstvollen Gestaltung haben mich die Texte in panik/paradies allerdings nur bedingt tief berührt, und ich habe mich gefragt, woran das eigentlich liegt, zumal ich bei der Lektüre angesichts früherer Leseerfahrungen mit Elze-Texten auf Berührtwerden eingestellt war: Ist es die schiere Menge der Gedichte, die nicht nur dazu verführt, das Lesetempo zu erhöhen, sondern einen auch denken lässt: noch eins und noch eins und noch eins…? Sind es die vielleicht allzu vielfältigen Formen und Sujets, die sich in einer Art Kannibalisierung wechselseitig ein wenig die ‚Show stehlen‘? Oder sind es gerade die oft prosanah komponierten ernsten Texte, die ich, wie insbesondere die Gedichte über den sterbenden Hund im CAPUT III „homo canis“ einfach nicht so stark fand wie manche früheren Gedichte von Elze, die den Gesamteindruck ein wenig trüben? Tatsächlich vermag ich es nicht genau zu sagen und neige zu der Ansicht: es ist wohl eine Mischung von vielem. So wie das Buch selbst, das – wie hier nochmal betont sei – lesenswert ist, und vielleicht so gelesen werden will, dass man sich immer mal wieder etwas herauspickt statt alles von A bis Z in einem Rutsch durchzugehen. Das Paradies verdient Muße. Das panik/paradies auch.


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