Boško TOMAŠEVIĆ: Drei Gedichte
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						Boško TOMAŠEVIĆ
Drei Gedichte
aus dem Serbischen übersetzt von Helmut Weinberger 
Eine Geschichte schon längst ohne mich
erinnert mich an das Holz für den Winter
an die Wildenten die über den Hof fliegen
an die Kälte der Luft
die mich hinweitet zu fernem Nichts
das meine Zukunft feiert die schon Gegenwart ist
hier
jetzt
ohne Holz für den Winter
ohne Wildenten in der Höhe
ohne Himmel
so wie es anders nicht sein konnte
für ein inszeniertes Leben,
für eine inszenierte Niederlage
wie es anders nicht sein konnte
seit jeher.
Eines Winters, eine Lesung
						
						Es ist tiefer Winter. Kurze Tage.
						
						Das Licht entfleucht allzu früh
						
						Und zieht sich zurück in die Wärme des
						Lesens.
						
						Unter einer Straßenlaterne geht Blok.
						
						Am zugefrorenen Fluß fischt Carver.
						
						Jabès bricht ein Buch an der sphärischen
						
						Unendlichkeit des Schreibens von Spur und Wiederholung.
						
						Die Apokalypse phantasiert ihre Nacht
						
						Und rächt sich an der Existenz.
						
						Derrida zieht im Bogen von Tag und
						
						Nacht das Feuer der Laterne
						
						Durch Kristalle, die auf
						
						Felder fallen, auf Zäune und Dächer,
						
						Auf Glockentürme, auf Bäume
						
						Schwer von der Nässe und vom
						
						Schreiben auf den Schatten
						
						Des ungeteilten
						
						Seins und Dichtens.
						
						Kalte Wiederholung
						
						Endlos ist die Wiederholung des Winters.
						
						Und diese Wiederholung des Schreibens über
						den Winter
						
						ist eine Weise, um Brueghels Jäger im
						Schnee
						
						zu wiederholen – eine Landschaft
						
						von melancholischer Strahlkraft, Strenge der
						Zeit,
						
						Vögel im Januar und Stillstand, in dem ich bin,
						
						der meine Achtlosigkeit gegenüber der Seele
						anschürt
						
						und zu einem Sichereignen dieses
						Sichereignens wird
						
						– des Winters in mir und vor mir, „Zwiefaches
						Silber“ und Finsternis
						
						in asketischer Landschaft des wiederholten
						Winters, der sich über mich breitete
						
						und ist: Ein Haus im Schnee, vernebeltes
						Glas, Holz im Ofen,
						
						Schneesturm in egal welcher driftenden Nacht
						der Worte.
						
						Dort, wo ich bin, ereignet sich das
						Geschriebene,
						
						die Wiederholung dessen, was dort-hier ist:
						Schneenebel und scheele Heiterkeit
						
						der Sterne und des Hauses, in dem ich jenem
						schreibe, der den Winter schaut und das Schreiben.
Boško Tomašević, geboren in Bečej (Wojwodina, Ex-Jugoslawien), ist Autor und Universitätsdozent. 2006 erhielt er die österreichische Staatsbürgerschaft. Zwischen 1990 und 2006 hielt er Vorlesungen zur Literaturtheorie, Poetik, Hermeneutik und literarischen Epistemologie an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Göttingen, Nancy, Innsbruck, Wien und Berlin. Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten seien erwähnt: Aus der Erfahrung des Seins und der Dichtung (1988), Kartesianischer Roman (1989), Selbstzerstörende Theorien. Die Literaturtheorie und der Geist des Postmodernismus (1993), Unendlicher Tausch. Fundamentalontologie als Theorie der Dichtung (1997), Zu einer definitiven Literaturtheorie (2000), Dichtung, Literaturtheorie, Existenz (2003), Galileische Poetik (2004), Hermeneutik des Undurchsichtigen (2006), Hammer ohne Herr. Essays, (2009, Essays über Literaturtheorie. Literaturtheorie und derridianische Revolution, (2011, Gegen Literaturtheorie, (2011), Das Denken des Schreibens, (2012), Hervorgang des Seins. Das ontologische Geschehen des Dichtens (2015), Das Buch über René Char (2015), Poetische Manifeste (2016), Randgänge der Literaturtheorie (2018), Opus totum. Mein Werk und die Kathedralen (2019). 
     Eckpunkte seines dichterischen Werkes sind die eleatische metaphysische Reflexion, das postmodernistische intertextuelle Gespräch mit der europäischen Dichtertradition (W. Blake, J. Donne, F. Hölderlin, P. Valéry, R.M. Rilke, B. Pasternak, O. Mandel’štam, T.S. Eliot, E. Pound, G. Trakl, R. Char, P. Celan, J.L. Borges, S. Beckett) und die geistigen Aspekte des Dichtens selbst. In letzter Zeit thematisiert Tomašević immer mehr seine eigene Lebenserfahrung als Erlebnis der Verbannung, als ein Reden über die Vertreibung in die Heimatlosigkeit, und er versteht das Dichten emblematisch als Sprengung des Nahen, das „keinen Ufern gewidmet ist“, zu finden in den Gedichtbänden: Kartesianischer Durchgang (1989), Zeitbewacher (1990), Wiederholung und Differenz (1992), Cool Memories (1994), Landschaft mit Wittgenstein und andere Ruinen (1995), Überprüfung der Quelle (1995), Plan der Rückkehr (1996), Saison ohne Herr (1998), Studie des Testaments (1999), Sprachwüste (2001), Der Sommer meiner Sprache (2002), Nirgendwo (2002), Celan trifft H(eidegger) und Ch(ar) in Todtnauberg (2005), Archeologie der Schwelle. Faucaults Erbe (2008), Erneute Vergeblichkeit (2009), Archiv (2009), Übungen im Zweifel (2010), Berliner Gedichte (2011), Allerneueste Vergeblichkeit (2011), Früchte der Heimsuchung (zweisprachig Deutsch-Serbisch, (2011), Nirgendwohin (2011), Ausgewählte Gedichte (Podium-Porträt, Bd. 64, Wien 2012), Ausgewählte Gedichte, Bd. 1 (2012), Ausgewählte Gedichte, Bd. 2 (2013), Risse (2015), Heiteres Wissen über das Scheitern (2015), Das Vergessen, zum welchem wir werden (2016), Besinnung (2017), Der Abgrund unter jedem Grund (2017), Ausgewählte Gedichte Bd. 3 (2017), Ausgewählte Gedichte, Bd. 4 (2017), Besinnung (2017), Der Abgrund unter jedem Grund (2018), Ich Niemand und Molloy (2018).
   Boško Tomašević lebt als freier Autor in Wien und ist Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft, Kunst und Literatur (Paris), Mitglied des französischen und österreichischen P.E.N., wie auch der Société des Gens de Lettres de France (Paris) und des Österreichsichen Schriftstellerverbandes (Wien).
 
 
