Boris Kerenski - Tanger
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Stefan Heuer
(Joachim Schönauer:) Boris Kerenski – "Tanger".
Gestaltung Frank Schaaf. (KILLROY media,- KILLROY art / magaZINE) 2023. 48 Seiten,
geheftet. Limitierte Auflage von 750
Exemplaren. ISBN 978-3-931140-51-9. 15,00 Euro.
In Tanger kann alles passieren, sagt man –
Auf den Spuren von Burroughs & Co.
Tanger, im Norden Marokkos mit gut einer Million Einwohnern, westlich
der Straße von Gibraltar. Hafen- und Handelsstadt, Autoproduktion, aufgrund ihrer
Lage beliebtes Ausflugsziel zahlloser Kreuzfahrt-Touristen – eine Stadt wie
viele andere.
Zu Beginn des
vergangenen Jahrhunderts sah das noch gänzlich anders aus. In den Jahren von 1923
bis 1956 eine von acht Staaten gemeinschaftlich regierte Internationale Zone,
in der zur Freude vieler Schmuggelei geduldet wurde, wurde Tanger in dieser Zeit
zu einem Zufluchtsort für Schwarzmarkthändler, für Intellektuelle, Gestrandete
und sonstige Exoten. Und auch auf einige, größtenteils aus den USA stammende
Schriftsteller, die heute gemeinhin der Beat Generation zugeordnet werden, übte
die Stadt einen unwiderstehlichen Reiz aus – vor allem auf William S.
Burroughs, der nicht nur die geringen Lebenshaltungskosten, sondern
unzweifelhaft auch die günstigen Preise für lokales Marihuana (kif) und arabische
Knaben zu schätzen wusste.
»In Tanger kann alles passieren« – so lautete zur damaligen Zeit ein
beliebter Ausspruch über die Stadt, die Burroughs die "Interzone"
nannte. Als er im Januar 1954 nach Tanger kam, hatte er bereits viel über sie
gelesen, vor allem von Paul Bowles, der bereits 1947 nach Tanger gegangen war, dieser
Wahlheimat bis zu seinem Tod im Jahre 1999 die Treue hielt und ihre Stimmung in
seinen Romanen "The Sheltering Sky" und "Let It Come Down" eingefangen
hatte. Burroughs stürzte sich in die Arbeit und schrieb das, was später von
vielen als sein Opus magnum verstanden werden sollte: "Naked Lunch".
Seite um Seite landete drogenbefeuert auf dem Boden – wo sie vielleicht für
immer liegengeblieben wären, wäre im Frühjahr 1957 nicht Jack Kerouac
dazugestoßen, der es sich zur Aufgabe machte, das Manuskript abzutippen. Kurz
darauf kamen auch Alan Ansen, Allen Ginsberg und dessen Geliebter Peter
Orlovsky, um Burroughs bei Zusammentragen und Lektorat unter die Arme zu
greifen …
Burroughs blieb nur bis zum Januar 1958 in Tanger, dann machte er sich nach Paris auf, um dort im Beat Hotel zu wohnen. Tanger aber blieb und faszinierte seitdem mehrere Generationen junger Schriftstellerinnen und Schriftsteller, es impliziert für viele noch heute die Idee drogengeschwängerter, alternativer Autorenschaft und lässt von literarischen Großtaten träumen; ein Sehnsuchtsort, der in heutiger Zeit vor allem in die andere Richtung wirkt, ist Tanger aufgrund seiner geografischen Nähe zu Europa und der, bei Gibraltar lediglich 15 km breiten, Meerenge doch Ausgangspunkt mancher Flucht, die junge afrikanische Männer mit der Aussicht auf ein besseres Leben nicht selten auf stürmische See und in den Tod lockt.
2004 erschien im bilgerverlag Zürich mit "Tanger Telegramm" eine knapp 350 Seiten starke Textsammlung zu und über Tanger (die bearbeitete 2. Auflage in 2017), Untertitel: "Reise durch die Literaturen einer legendären marokkanischen Stadt". Herausgegeben wurde dieser massive Klotz seinerzeit von Florian Vetsch und Boris Kerenski.
Vor wenigen Tagen, im Februar 2023, erhielt das inzwischen zum Kultbuch avancierte "Telegramm" nun eine schlicht "Tanger" betitelte Ergänzung, erschienen als Band 2 der noch jungen Reihe KILLROY artbooks. Kurze Prosa und Gedichte (zumeist in Erstveröffentlichung), die den Geist von Bowles und Burroughs atmen, kombiniert mit s/w-Fotos, die Boris Kerenski anlässlich seines zweiten Aufenthalts in Tanger im Jahr 2018 geschossen hat. Straßen, Häuser, das Meer und der Himmel, jeweils von einer Vignette mit dem Umriss Tangers flankiert, aus der ersichtlich ist, wo im Stadtgebiet das jeweilige Foto aufgenommen wurde. Menschen erscheinen auf diesen Fotografien nur als kurze Notiz am Rande, sind nur dann mit drauf, wenn es sich nicht vermeiden ließ – und bis auf wenige Ausnahmen ließ es sich vermeiden. Eine Hommage an die Stadt.
Und die Autorinnen und Autoren: allesamt Wiederholungs- und Überzeugungstäter, niemand, der hier zufällig oder zu Unrecht reingerutscht wäre. Pociao (deutsche Übersetzerin, u.a. Laurie Anderson, Paul Bowles, Tom Robbins, Patti Smith) eröffnet, nimmt uns mit auf eine winterliche Tanger-Reise im Januar 1987, deren Mission sie selbst als Spurensicherung bezeichnet. Amsél führt den Leser durch das für gewöhnlich vor Leben strotzende Gewimmel der Gassen, zeichnet uns Kunstmaler, Dandys und Filmsets vor Augen, um das Ganze im Anschluss der nahezu ausgestorben wirkenden Stadt im Corona-Jahr 2021 gegenüberzustellen. Florian Vetsch, ebenfalls wieder mit an Bord, berichtet anhand zweier Anekdoten von einem Aufenthalt in der Villa Muniria, eben jener Unterkunft, in der auch Burroughs und Konsorten eine Zeit lang wohnten. Susann Klossek erweist Tanger mittels zweier Gedichte bitter-melancholische Referenz. Björn Kuhligk, erzählt von Eindrücken während einer Recherche-Reise. Dieter Haller und Kerenski steuern weitere Texte bei – ich kann und möchte hier nicht alle Texte anreißen, ein wenig Überraschung soll ja bleiben …
Fazit: 48 abwechslungsreiche Seiten, wie schon das "Tanger Telegramm" in A4, erstklassiger Druck, der den teilweise seitenfüllenden Fotos auf Augenhöhe gerecht wird. Eine muntere Setzung samt unterschiedlicher Typographie lockert das Bild auf.
Anschaffung empfohlen, für manche sicherlich ein Muss.