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Björn Hayer: Das Haus

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Jürgen Brôcan

Björn Hayer: Das Haus. Gedichte. München (Mitlesebuch 151 – Aphaia Verlag) 2025. 66 S. 15,00 Euro.

Ein Haus vollgestopft mit Bildern


Ein Buch ist ein Haus der Wörter, die Wörter sind ein Haus für die Bedeutungen, sind temporärer Unterschlupf für Erinnerungen. Ein Buch, dessen Titel »Das Haus« lautet, mit dem bestimmten Artikel, ist nicht nur eine Behausung für die Poesie, es handelt auch von einer ganz konkreten Wohnstätte. Durch die Poesie und ihre wunder- & heilsamen Wirkungen jedoch verwandelt sich dieses Haus in eines, das unter gewissen Bedingungen den Aufschein der Allgemeingültigkeit trägt. »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesent-lich gedachte Wohnen«, schrieb der für vieles blind, für vieles aber jedoch sehr hellsichtig gewesene Martin Heidegger. Das Verhältnis des Menschen zur Wohnung, könnte man ergänzen, ist aber auch wesentlich bestimmt durch andere Menschen, die in ihr gewohnt haben. Wenn sie nicht mehr dort wohnen, gibt sich das Haus unwohnlich, heimgesucht von den Gespenstern namens Erinnerungen.

Ein für die Lyrik seltsam anmutendes Motto eröffnet Björn Hayers Band: »Ich will keine Bilder mehr | Sie führen mich nur noch weiter weg | von allem – « Nun stellt ein Gedichtbuch, der auf Bilder generell verzichten möchte, ob nun als Repräsentation von visuellen Szenen oder als Metaphernensemble gemeint, beinahe eine Unmöglichkeit dar, ja einen Widerspruch zu den traditionellen Werkzeugen des Gedichtbuchs. Dieses ›mehr‹ kann also nur eine imperativische Absage an eine allzu hohe Poetizität sein; sie verweist auf eine Hinwendung zu den Realien des Lebens, zum Rohmaterial des Gedichts, das hier keinem Prozeß der Verallgemeinerung und Abstraktion unterworfen werden soll, und sie weist den Dichter an, sich auf das Einzelne, Individuelle zu besinnen und zu konzentrieren.
»Im Haus findet sich leicht eine Seele«: Diese kühne Behauptung setzt den Auftakt des Buchs. Und fordert sogleich die Überlegung heraus, ob sie metaphysisch, esoterisch oder religiös zu verstehen sei. Im Fortgang des Buchs werden wir durch ein Haus geleitet, in dem eine zunächst nicht genau benannte Fehlstelle, eine Mängelaura existiert. Das unbeschwerte Wohnen in diesem Haus ist kaum möglich, denn alles in ihm ist mit Erinnerungen durchtränkt, und die wecken den Schmerz. »Als ich die Dinge weinen hörte«: So ist dem Autor, den man in diesem Fall als wohl das schreibende Ich identifizieren darf, zumute, weil alles, von den Möbeln bis zum umgebenden Wald, aufgespeicherte Bilder projiziert. »Hier lebt man auf Abschied | von Metaphern, die andere sich | erdachten, den leeren Raum – | hinter der Tür – « Die Schwere der Bilder ist schwer erträglich. Nicht Bilder, nicht Gedichte, nicht Photographien wären ein Trost, sondern die Wiederkehr der Realien. Aber das Haus verkörpert bloß die gescheiterte Unmöglichkeit dessen.

Ein Haus ist ein Kreis:
Ahnen, die niemals gegangen sind
Staub, der nicht unterscheidet –
Nach der Vergegenwärtigung und Bestandsaufnahme des Verlusts im ersten Teil, »Ein Ort« (der unbestimmte Artikel an dieser Stelle schafft Distanz, deutet auf Fremdheit, Entfremdung hin), beginnt im zweiten Teil, »Ein Abschied«, die Verarbeitung des Verlusts. Sie geschieht durch das Schreiben, durch die bewußte Entscheidung, über den Verlust zu schreiben und das Schreiben darüber expressis verbis zu thematisieren – eine solche Metapoesie gerät natürlich schnell in den Verdacht des Manierismus, ist jedoch durch die bewußte Entscheidung, die Realien des Lebens überhaupt nicht zu verschleiern, allemal poetisch angebracht und auch keinesfalls langweilig, vor allem, wenn Gefühl und Sinnieren Hand in Hand gehen.

Die Seiten der ersten beiden Teile des Gedichtbands sind zweigeteilt, auf der oberen (!) Hälfte befinden sich die Gedichte, auf der unteren stehen kurze Prosatexte. Man kann sie unabhängig voneinander lesen. Aber zunehmend erläutern sie sich gegenseitig, werfen sich Stichworte zu, verzahnen sich auch einige Male. Im dritten Teil, »Eine Sphäre«, gibt es dann zunächst nur noch die Dichtung in Zeilen – nicht zufällig: denn einige Gedichte sind als Wechselgesang angelegt, abwechselnd ertönen die Stimmen von der linken und von der rechten Seite des Blatts, sie haken ineinander ein, setzen einander fort; andere Gedichte nehmen dagegen parallel verschiedene Wege, nachdem sie zunächst von derselben Zeile ausgingen. Der Inhalt bestimmt die Form: »Verschlungen ist umschlungen | ist zärtliche Gebärde«.

Die Prosapartien im unteren Seitenbereich fungieren als eher reflektierende Gegenstücke zur akuteren Lyrik. Ihr Rückblick ist eine Mischung aus Nostalgie und Rechenschaft, mal dem Prosagedicht zuneigend, mal der Betrachtung, dem Notat, dem Lektürekommentar. Oder dem schlichten Bericht: »Das ganze letzte Jahr deines Lebens verbrachtest du in grauenhaften Schmerzen. Du warst gefangen in einem Körper, der in sich zusammenfiel.« Es fällt auf, daß die deutlichen, krassen, nackten Sätze öfter in der Prosa als in der Lyrik zu finden sind, so als böten die kurzen Zeilen in ihrer Verdichtung einen Schutz davor. Man kommt der Angst des Dichters vor den Bildern jetzt immer weiter auf die Spur, denn die Bilder sind das Medium der Vergegenwärtigung dessen, was den Schmerz immer neu aufrührt. So erklärt sich auch der Schluß des Gedichtbands mit dem rätselhaft ausklingenden Satz: »Je länger ich schaue, desto mehr blendet mich diese Abwesenheit, diese gewaltige Abwesenheit, die stets in ein Hinüber kippt, in ein Blatt, ein weißes Blatt. Alles ist nun hell.« Wir erinnern uns: das Haus ist ein Kreis. Der Kreislauf des Schreibens: Das leere Blatt steht nun bereit für die Bilder der Poesie, für die Schrift, für die Dichtung über die Bilder und das Schreiben.

Ein Buch ist ein Körper für die Wörter, die Wörter verkörpern die Bedeutungen. Solche leibhaftige Dichtung kann – und muß vielleicht sogar – ohne Umschweife den Körper thematisieren, den körperlichen Schmerz, der die Seele beeinträchtigt, die zuletzt den Körper flieht, von der einen Wohnung in eine größere Wohnung: ins Haus, das sie absorbiert. Björn Hayers Buch verkörpert das erschütternde Zeugnis eines Verlusts. Es erschüttert nicht nur durch die Unmittelbarkeit, sondern auch durch das Wissen, daß man eine derartige Unmittelbarkeit nicht vollends in eine abstrakte, von aller Emotionalität souverän gewordene Poesie auflösen kann. Es bleibt ein Erdenrest von Unvollkommenheit (einschließlich der Druckfehler), zu tragen peinvoll, aber nicht peinlich. Denn erleichternderweise ist eine der schönen Paradoxien der Dichtung, daß sie durch einen leichten Mangel an formaler Perfektion, wenn durch seelische Erschütterungen hervorgerufen, bedeutend an Größe gewinnt – dichterisch und menschlich.


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