Björg Björnsdóttir Der sechste Wintermonat
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Astrid Nischkauer
Björg Björnsdóttir: Der sechste Wintermonat. Aus dem Isländischen übertragen
von Jon Thor Gislason und Wolfgang Schiffer. Schönreiche bei Berlin (Corvinus
Presse) 2021. 22 nummerierte und signierte Exemplare mit 6 signierten
Radierungen von Jon Thor Gislason und Linolschnitten für Cover, Vorsatz etc. für
300,00 € sowie 100 nummerierte und von der Autorin signierte Exemplare mit 6
Abbildungen von Radierungen für 20,00 €.
Die Sanftheit des Augenblicks
Der
sechste Wintermonat von Björg Björnsdóttir,
aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer,
ist ein Jahreszeitenzyklus. Der Band enthält zwölf Gedichte, eines für jeden
Monat. So weit, so vertraut. Was anders ist, ist, dass das isländische Jahr,
geht man rein nach den Gedichttiteln, nicht in vier Jahreszeiten unterteilt
wird, sondern nur sechs Monate Sommer und sechs Monate Winter kennt. Auf der
einen Seite haben wir die völlige Dunkelheit des Winters („Der Morgen erweist sich
als Nacht.“), auf der anderen die nicht untergehende Mitternachtssonne („Dann
kommt die Nacht, die ein Tag ist“). So wie am frühen Morgen erst alles Grau ist
und erst mit zunehmendem Licht die Farben hervortreten, beobachtet Björg
Björnsdóttir dieses Phänomen, von bei uns nur wenigen Minuten, über Monate
hinweg. Im zweiten Sommermonat wird das Dunkel zu einem Grau, begleitet von
Weiß und Dunkel: „Es ist grau am Rand der Hochebene. // Aus dem weißen
Schneeregen / taucht ein dunkler Vogelschwarm auf.“ Während im zweiten
Wintermonat die Farben des Herbstes dann noch einmal mit voller Kraft aufleuchten:
„In einem Meer von Grün / stehen leuchtend gelbe Birken. […] Die Steinbeeren
locken rot,“
Im Isländischen
hat jeder Monat einen eigenen Namen, wie „Ýlir“ oder „Mörsugur“. Diese Namen
werden auch in der Übersetzung angeführt, und dann jeweils übersetzt mit erster
bis sechster Wintermonat und erster bis sechster Sommermonat. Der Zyklus
beginnt mit dem vierten Wintermonat, der wohl gleichzusetzen mit dem Jänner und
dem Jahresbeginn sein wird. Den Gedichttiteln nach gibt es eben nur Winter oder
Sommer, die Gedichte selbst kennen aber sehr wohl Herbst und Frühling: „Ein
zitternder Glockenschlag / bittet den Frühling / zum Tanz.“ (Skerpla – Der
zweite Sommermonat)
Jahreszeitenzyklen
repräsentieren immer auch das Leben an sich, von Geburt bis Tod. Auch der
Zyklus von Björg Björnsdóttir verhandelt den Kreislauf von Werden und Vergehen.
Im ersten Sommermonat brechen die trächtigen Rentierkühe in die Berge auf: „Die
Rentierkühe / gehen in die Berge / mit ihrer kostbaren Fracht.“ Im ersten
Wintermonat wiederum geht die Bewegung beim Schafabtrieb dann in die
entgegengesetzte Richtung: „Werden alle Schafe / vom Berg heruntergekommen
sein?“ Einerseits wird in dieser Sorge, ob auch kein Schaf vergessen worden
ist, Fürsorge um das Leben der Schafe ausgedrückt. Andererseits bedeutet die
Obhut der Menschen für die Schafe nicht nur die Geborgenheit der warmen
Stallungen, sondern auch den möglichen Tod als Nahrungsmittel für die Menschen:
„Schafsgeblöke. Der Tag des Sterbens naht.“
In den Gedichten
geht es um Natur, um Licht, Vögel, Bäume, Witterung und Wetter. Es sind sehr
ruhige Gedichte, die eine große Achtsamkeit und Sorgsamkeit ausdrücken. Das
wahrnehmende Individuum ist alleine und dabei doch nicht alleine: „Wir sind
allein, / ich und die Ankunft des Herbstes.“ In gewisser Hinsicht werden das
Wetter und die Natur zum anthropomorphen Gegenüber: „Ich trete vorsichtig
hinaus in diese kalte Umarmung.“ Die harten Lebens-bedingungen werden am eigenen
Körper spürbar, der schmerzhafte Lichtmangel im Winter: „Mein Verlangen nach
Licht, Linderung, / ist körperlich.“ ebenso, wie die raue Witterung im ersten
Wintersturm: „Das Wetter verpasst mir eine Ohrfeige. / Wütet ohne Ziel.“ Gegen
eine derart unwirtliche Natur hat sich das Individuum zu stemmen und zu
behaupten, was es in der nächsten Versstrophe dann auch tut: „Aber ich lache /
gegen den Wind.“
Die wilde, oft
unwirtliche Landschaft, die wir vor uns sehen, ist nahezu menschenleer. Quert
doch einmal ein Mensch das Bild, so wird dieser von der Tierwelt als störend
empfunden: „Da scheut die Schar / und setzt an zum Flug, / ein Missfallen im
Flügelschlag, / ein laufender Mensch.“
Björg Björnsdóttir
lenkt das Augenmerk auf die Dualität, die allem innewohnt. So sehnsuchtsvoll
das Licht in der Mitte des Winters herbeigewünscht worden war, so ermüdend sind
die endlosen Tage des vierten Sommermonats: „Ich schleppe mich hinaus. //
Tränen in den Augen / gegen die ewige Sonne.“ Parallel dazu ist die andauernde
Dunkelheit gegen Ende des Winters zwar kaum mehr zu ertragen, doch hat die
Dunkelheit am Beginn des Winters nach dem Sommer voller Licht auch etwas
tröstliches, Geborgenheit vermittelndes: „Die Dunkelheit ein sanftes Tuch, / in
das ich mich einhülle“.
Der
sechste Wintermonat ist in der Corvinus
Presse in einer Auflage von 100 nummerierten und signierten Exemplaren
erschienen. Die Buchgestaltung und Ausführung sind sehr bibliophil, großzügig,
wohlüberlegt und schlicht und ergreifend wunderschön. Das ohnehin sehr dicke
Papier ist doppelt genommen und mit japanischer Bindung gebunden. Die
Gedichttitel sind rot gesetzt, das erste und das letzte Gedicht sind zusätzlich
auch noch auf Isländisch zu lesen, damit man einen Eindruck von der Sprache
gewinnen kann. Und zusätzlich enthält der Band auch noch mehrere Grafiken von
Jón Thor Gíslason, die sich immer auf das jeweilige Gedicht beziehen.
Björg
Björnsdóttir, Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer entführen uns in Der sechste Wintermonat nach Island.
Eine Lesereise der ganz besonderen Art, die uns, so wir achtsam sind, „die
Sanftheit des Augenblicks“ lehrt.