Birgit Schwaner: Alice und ich
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Monika Vasik
Birgit Schwaner: Alice und ich. Erzählung. Wien (Klever Verlag) 2024. 100 Seiten. 20,00 Euro.
„Wir sind, wo die Spiegel erblinden“
Spiegel sind häufig Motiv und Metapher in der Kunst. Sie zeigen als Objekte einerseits Wirkliches und dienen der Selbstvergewisserung. Oft aber werden sie zum Tor in eine andere Realität und mit geheimnisvollen, mystischen und übernatürlichen Vorstellungen und Eigenschaften verknüpft – man denke an die magischen Spiegelszenen im Märchen Schneewittchen oder in J. K. Rowlings „Harry Potter und der Stein der Weisen“, aber auch an Filme, etwa Jean Cocteaus 1949 entstandenen Film „Orpheus“, in dem ein Spiegel zur Tür ins Totenreich wird. Auch in Birgit Schwaners neuestem Werk Alice und ich spielen Spiegel, Spiegelungen und das sich Spiegeln eine nicht unwesentliche Rolle. Vor allem aber führt es tief hinein in eine surreal werdende Welt. Das Buch erschien Ende des Jahres 2024 und damit genau 100 Jahre nach der Veröffentlichung von André Bretons Erstem Manifest des Surrealismus im Oktober 1924. Breton glaubte an die zukünftige Auflösung der scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität. Ein Grundsatz des Surrealismus ist, dass es keine objektiv fassbare äußere Wirklichkeit mehr gibt. Denn diese reicht über das Reale, mit Sinnen, Vernunft und Verstand Fassbare hinaus, sobald sie durch Träume und das Reich des Un(ter)bewussten erweitert wird. Die avantgardistische Kunstströmung hat nicht nur in der Bildenden Kunst zur Entstehung bedeutender Werke geführt, sondern auch in der Literatur des 20. Jahrhunderts und hinterlässt Spuren bis heute. So auch im vorliegenden Buch, in dem eine Ich-Erzählerin darum ringt, Wörter zu finden für ein tiefgreifendes, von Ängsten begleitetes Geschehen und einen Weg, dieses erzähl- und begreifbar zu machen. Denn:
„Das Schwere ist, wie ihr wisst, nicht in Wörtern zuhaus, eher im Schweigen und dort, worum Wörter nen Bogen machen.“
Der Tatsachen des Buchs sind schnell erzählt: Eine namenlose Ich-Erzählerin wird 2015 kurz vor dem Jahreswechsel zur Abklärung im Spital aufgenommen. Grund ist eine unklare Raumforderung im Bauch mit Aszites, einer pathologischen Ansammlung von Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Diagnostiziert wird Eierstockkrebs, eine Operation mit anschließender Chemotherapie ist nötig. Da die Krankheit sich weitgehend symptomlos entwickelte, trifft sie die Frau völlig unvorbereitet. Innerhalb weniger Tage wird aus der vermeintlich Gesunden eine Patientin, die von einer potenziell tödlichen Erkrankung bedroht ist. Wie geht sie damit um, dass viele Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten schwinden und der Ausgang ungewiss ist? Denn wie wird ihre Gegenwart, wie lang ihre Zukunft sein? Was kann überhaupt noch sein, „falls du repariert werden kannst“?
Nun sind Krankengeschichten nichts Seltenes in der Literatur. Das Interessante an diesem schmalen Buch von knapp 100 Seiten aber ist die Form und wie es die Autorin schafft, Konfrontation und nachfolgende Verstörung mit literarischen Mitteln begreifbar zu machen. Die Handlung folgt zwar einer zeitlichen Chronologie, doch sie ist labyrinthisch erzählt und der lineare Text immer wieder gebrochen. Die Autorin schöpft, wie im Nachwort nachzulesen ist, nicht allein aus ihrer Phantasie und Eindrücken verschiedener Lektüren, sondern aus dem eigenen (Üb)Erleben und legte den Nachhall ihrer Erfahrungen von Krankenhaus und Krebsdiagnose zugrunde, die sie in „eine großteils fiktive Erzählung oder auch Nicht-Erzählung“ verwandelt:
„Freilich als Collage, die wie jede ihrer Art, aus Fragmenten besteht. Nicht anders als unser Denken.“
Wobei der Gedankenfluss angesichts von Ereignissen, die alle bisherigen Gewissheiten erschüttern, noch fragmentier-ter wirkt, als es beim Denken meist der Fall ist. Collagiert wurden diese Bruchstücke um den erwähnten Handlungs-faden, in dem vieles real wirkt. So gibt es das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien, diese „Remise der traurigen Körper“.
„Dort also fiel ich ins Krankenhaus, und das Krankenhaus stürzte in mich.“

Die Ich-Erzählerin landet in einem Drei-Bett-Zimmer der
Gynäkologischen Abteilung. Wir erfahren von Spitalsroutinen, Pflegehandlungen
und Visiten, von Krankengeschichten anderer Patientinnen, von Ängsten und
scheinbarer Abgeklärtheit, von Therapienebenwirkungen oder den Reaktionen der
Mitwelt. Doch vorab wird erklärt, das beschriebene Spital sei
„ein fiktiver Mikrokosmos, der so wenig mit dem namentlich erwähnten ... zu tun hat, wie dieser Text mit realen Ereignissen außerhalb des Autorinnenkopfes. Was vorkommt, unterliegt dem Lauf des Sprach- und Gedankenflusses, in dem jedes Wort im Prinzip eine neue Abzweigung und einen weiteren roten Faden initiieren könnte.“
Vorangestellt hat Birgit Schwaner ihrem Text ein Zitat von
André Breton, das eine Utopie der Hoffnung ausdrückt:
„Im Absurden vermag der Geist einen Ausweg aus allen beliebigen Schwierigkeiten zu finden. Die Neigung zum Absurden öffnet den Menschen aufs neue das geheimnisvolle Königreich der Kinder.“
Gegliedert ist das Buch in zwölf Kapitel, die meisten tragen
ein Datum als Titel. Der Hauptteil der Handlung spielt an sechs Tagen, von der
Aufnahme bis zur vorläufigen Entlassung vor der geplanten Operation, die einige
Tage später stattfindet. Die Ich-Erzählerin lernt eine Mit-patientin kennen,
deren vor Jahren behandelter Eierstockkrebs erneut aufgetreten und bereits
metastasiert ist. Die unkonventionelle Alice ist eine Namensvetterin von Lewis
Carrolls Alice im Wunderland, hat die
phantastische Geschichte angeblich oftmals gelesen und über ihre Mutter mehr
als nur ein paar Berührungspunkte zum Surrealismus. Die Erzählerin begegnet ihr
eine Woche später bei der Aufnahme zur Operation wieder. Alice sieht deutlich
schlechter aus als zuletzt, „schmäler, zerbrechlicher“ und mit stark
angeschwollenem Bein. Alice scheint eine reale Person zu sein, doch ist sie
„womöglich gar nicht real“, sondern eine Projektion, das Ergebnis einer
Dissoziation der Erzählerin und ihrer Bewusstseinsströme? Eine mögliche Lesart
finden wir gleich zu Beginn:
„Zwei Frauen in die Sprache gesetzt, eine ist Alice, die andere Ich. Das bedeutet: Genaugenommen ist Ich die eine und andere zugleich, während Alice die andere bleibt. Ich bin und ist also auch eine, die auf zwei andere trifft und schreibt: Wir drei – Alice, das Ich und ich – stecken in der Geschichte fest.“
Alice wird zum Spiegel der teilbewussten Ängste vor der
eingreifenden Behandlung und einer ungewissen Zukunft, der unter anderem zeigt,
dass es ein Leben nach Diagnose und Therapie gibt und dass trotz aller
Einschränkungen, trotz aller Beschädigungen darin Freude, gemeinsames
Herumalbern und Spielarten der Unbekümmertheit Platz haben. Auch eine weitere
Mitpatientin, Frau Göttlich, die als „Soldatin der Katholika“ bezeichnet wird,
wirkt wie ein Spiegel, in dem die abgelehnten Reste einer religiös-konservativen
Erziehung der Erzählerin zu sehen sind. Das Ich ist belesen und bringt einige
Bücher mit. So verwundert es nicht, dass Literatur zum wesentlichen Element der
Collage wird, allen voran Carrolls Bände Alice
im Wunderland und Alice hinter den
Spiegeln. Im ersteren wundert sich Alice einmal:
„Früher beim Märchenlesen dachte ich mir immer, solche Dinge könnten ja doch nicht geschehen, und jetzt bin ich selbst mitten in ein Märchen geraten!“(A. i. W., Kapitel 4)
Ähnliches empfindet die Ich-Erzählerin. Doch statt einer
magischen Reise durch ein phan-tastisches, unterirdisches Wunderland, gibt es
für sie bloß das alptraumhafte Schwanken angesichts einer tödlichen Gefahr,
bereichert mit skurril-komischen und absurden Wendungen. Da wie dort geht es um
Ängste, den drohenden Verlust der bisherigen Identität und um magische Träume,
die neue Impulse geben. Ein unerfahrenes Bewusstsein steht im Zentrum, dem die
bekannte Primärwelt verrückt, und dem sich eine neue, andere Welt öffnet, für
die Kontexte noch fehlen und in der es über sich hinauswachsen und sich
behaupten muss. Carrolls Alice war 1941 von französischen Surrealisten zur
Sirene des Traums ernannt worden. Die Alice in Schwaners Buchs bringt den Bau
einer „Sirenenmaschine“ ins Spiel, mit deren Hilfe man sich von der
Spitalswirklichkeit und all den Ängsten befreien könne. Es ist eine Utopie, die
am Ende scheitert. Während Carrolls Alice in ihrer Alltagswelt erwacht, ist die
Welt der Ich-Erzählerin radikal verändert, und es gibt kein Zurück in ihr
früheres Leben. Neben formalen Ähnlichkeiten, z.B. haben die Bücher je 12
Kapitel, in beiden findet man direkte Anreden an Leser:innen sowie in Klammern
gesetzte Erläuterungen, gibt es auch motivisch einige Verbindungen. Carroll
schickte seine Alice durch Schacht und Spiegel ins Wunderland. Hier taucht das
Motiv des Schachts bei der Aufnahme ins Krankenhaus auf, ein zweites Mal nach
der endgültigen Diagnose. In beiden Texten gibt es Träume und traumhafte
Szenerien. Etliche Figuren werden in den Krankenhausgesprächen erwähnt oder
zitiert, zum Beispiel der weiße Hase, die Grinsekatze, der Hutmacher, Humpty
Dumpty, die Raupe oder die Herzkönigin. Daneben gibt es aber auch Verweise auf
andere Literaturen, etwa auf Texte von La Mettrie, Hans Arp, Platon und T. S.
Eliot. Teil der Collage sind zudem Sachtexte und Listen, Auszüge aus jenem
Notizbuch, das Alice als Bewältigungs-Strategie nach den Regeln der Écriture
automatique geschrieben haben will, sowie „Celia Fragmente“ – ein Anagramm von
Alice, wobei Anagramme, Klangeffekte und Sprachspiele wiederholt im Text
auftauchen. Und so erzählt Alice und ich
eindrücklich von Verwandlungen, vom Entkommen, Reifen und von der Utopie einer
(Über)Lebenskunst, an der Schreiben und Lesen wesentlichen Anteil haben. Denn
„Wörter sind manchmal Medizin“, zumindest dann, wenn Erschöpfung,
Wortfindungsstörungen und Gedächtnislücken dies zulassen.