Birgit Müller-Wieland: Reisen Vergehen
Andrea Heuser
Wenn im Rückenwind der Geschichte Alltag aufsprüht –
Birgit Müller-Wielands Gedichte „Reisen Vergehen“
(Lektüre-Eindrücke, vorgetragen als Einführung zur Lyriklesung
Birgit Müller-Wielands im CAVEAU, 16. September 2016)
„Ein Gedicht, das man verlässt, hat man nie betreten.“ (Franz Josef Czernin).
Wie aber betritt man ein Gedicht? Lesend, natürlich. Und lesen im Sinne von „betreten“ bedeutet, dass wir uns in das Gedicht hinein begeben. Es fordert uns auf unseren Standpunkt zu verlassen und damit Veränderung, wie minimal auch immer, zuzulassen.
In Birgit Müller-Wielands Gedichten begegnet uns diese Aufforderung zur Bewegung in einer ihren schönsten Formen: als Einladung. Als Einladung zu einer Reise. Und so locken ihre Texte uns zunächst einmal mit ganz konkreten Örtlichkeiten. Mit heimischen Plätzen wie dem Olympiaberg, der Stadtrandsiedlung, oder dem Hirschgarten. Dann bewegen wir uns ein Stückchen weiter: nach Salzburg, zum Attersee, nach Berlin, ins mittelfernere Rom, nach Neapel, Capri, Venedig, Patmos, St. Petersburg. Und schließlich nach Lemberg, Lukanien, Vilenica, nach Galizien; zu teilweise verschwundenen, bzw. von Gewalt, wechselnden Länderzugehörigkeiten und Kriegen heimgesuchten, überschriebenen Orten: „Lwiw/Lwow/Lemberg“ – Schon der Titel des Gedichts, Ort und Benennung zugleich, markiert durch seine Mehrsprachigkeit und Schrägstriche jene Zäsuren.
Es wundert nicht, dass eine solche Begegnung/Begehung vor allen Dingen fragend stattfindet. „Was weiß man eigentlich“? Diese Frage, die das Gedicht durchaus stellvertretend stellt, lässt uns „Lwiw/Lwow/Lemberg“ überhaupt erst (im lesenden Sinne) ‚betreten’.
Oder anders: Was sehen wir eigentlich, wenn wir solch eine Ortschaft bereisen? Nun, wir sehen zum Beispiel den Marktplatz vor unseren Augen, den Dom, Frauen im Kopftuch, den Flieder, die Kastanien in ihrer prachtvollen Maiblüte. Um aber die zerstörten, vernichteten Synagogen ‚sehen’ zu können, bedarf es - wie es in dem Gedicht so schön heißt - eines „Blicksturzes, jetzt“, der hier, an der Grenze des Möglichen, erst einmal auf den Asphalt prallt und auf uns selbst:
Lwiw / Lwow / Lemberg (1998)
Was weiß man eigentlich vom Land
aus dem man kommt was von der Stadt
in der die Straßen Häuser habsburggelb
ermüdet fremd die vorgestreckte Hand
an alten Frauen Kopftuch Maiglöckchen Flieder
vor dem Bahnhof Dom hier ist der Markt eine der vielen
Synagogen waren einmal Blicksturz
jetzt Asphalt die Männer am Boden
liegen Essiggurken Brot
nicht alt sind zahnlos ihre Beine mal links mal rechts
mal alles in anderen Ländern geblieben
Auf Bleistiftspitzen zittern Mädchen vorbei
mit Röcken so hell die Haare fliegen dunkel
im Kastanienblütenmai und wir aus dem Westen
verzaubert immer verzaubert und reglos
wie Reptilien in wechselnden Kriegen¹
Was ein Ort in der Zeit ist, genau dann und nur dann, weder vorher noch nachher –
Ruth Klüger hat dafür einen ganz wunderbaren Begriff geprägt: den der Zeitschaft.
Und wir, die wir eine solche Zeitschaft lesend betreten, ihr also – anders als diejenigen, die über ihre Lebensgeschichte mit ihr verbunden sind – lediglich ‚von draußen’ begegnen, wir vermögen vielleicht dennoch etwas zu erahnen von jener Unwiederbringlichkeit des Vergangenen, das einer solchen Zeitschaft als geisterhafter Spur innewohnen bleibt. Lesendes Reisen wird dann zum Spurenlesen. Zu einem Eingedenken, dessen Wucht uns, wie in dem Gedicht „In Drohobycz“ unter den Bäumen von Bronica mitunter auch ganz physisch anweht:
In Drohobycz
Zur Erinnerung an Bruno Schulz
Auf den zertrümmerten Stufen die Braut
ein windzerzauster Engel um die Ecke
treibt es einen Mann zur Villa da
wohnten Kutscher und Königin
an der Wand und das zimtbraune Gewehr
Wir stehen draußen sechzig Jahre später
hören die Luft sich teilen ein Zischen
das Ächzen sagt einer kommt da her
vom Wald
nicht vom Hügel drüben mit dem Förderturm
sagt einer die Bäume von Bronica
hört nur biegen sich wieder
vom Es-war-einmal-Sturm²
„Es-war-einmal-Sturm“ – Sicherlich bin ich nicht die Einzige, für die sich der Engel der Geschichte hier regt. Derjenige, wir erinnern uns, der da inmitten alles Irdischen steht, mit dem Blick auf die Vergangenheit als einer einzigen Trümmer um Trümmer anhäufenden Katastrophe. Der verweilen, der heilen, zusammenfügen will, aber, wie es so schön bei Walter Benjamin heißt: „Ein Sturm weht vom Paradiese her“. Und dieser bläst den Engel mit aller Macht der Zukunft entgegen. Einer Zukunft, der er den Rücken zuwendet, weil er den Blick nicht von der Vergangenheit lösen kann.
Wobei er, anders als Lots Frau, dabei nicht gänzlich erstarrt. Sein Blick bleibt verhaftet, der Sog der Zeit aber treibt ihn gegen seinen Willen weiter, fort auf seiner Reise durch die Zeit.
„Reisen Vergehen“ – Bei Birgit Müller-Wieland scheinen wir es mit einem jüngeren Bruder (oder der Schwester) jenes benjaminschen Engels zu tun zu haben, der – verwandt und doch eigensinnig – seinen Blick (gleichsam im Umkehrschluss) auf die Gegenwart richtet. Der im Alltag, im Hier und Jetzt verweilen, der Zukunft ins Auge sehen will. Aber dieser Blick stürzt immer wieder ab, wird angezogen, fortgetragen: zurück, zurück von jenem „Es-war-einmal-Sturm.“
„Reisen Vergehen“ – lautet also nicht von ungefähr der schöne doppeldeutige Titel dieses Gedichtbandes. Neben der geschichtlichen Bedeutung, die hier anklingt, erweckt der Titel aber auch ganz konkrete, alltagsnahe Assoziationen. Und gerade diese Kombination aus beidem, nämlich Geschichtsbewusstsein und Alltagssinnlichkeit ist es, die ich persönlich in diesen Gedichten so bezaubernd finde.
Auf Reisen vergeht die Zeit für uns anders, wie wir wissen. Wer schon mal einen Überlandflug mit Zeitverschiebungen hinter sich gebracht hat, weiß was ich meine.
„Jet lag“ lautet ganz allgemein der Ausdruck dafür, dass das Bewusstsein oder die Sinne ihr eigenes Bewegungstempo haben. So gibt es unter bestimmten Völkern den Glauben, dass die Seele beim Fliegen verloren zu gehen droht, weil sie die tatsächliche Entfernung nicht so schnell zurücklegen kann wie der Körper (ebenso wie umgekehrt im Ablichten, im Vorgang des Stillstellens einer Person durch die Fotographie).
Wie auch immer: Für die Dauer unseres Unterwegsseins von hier nach dort, durch Zeit- und Klimazonen etwa, macht uns das Reisen zu ‚Zwischenwesen’. Und als solche befinden wir uns in Birgit Müller-Wielands Gedichten in bester Gesellschaft. Denn auf unserer Reise durch ihre poetischen Ortschaften sind wir niemals allein, sind sozusagen nie ‚von allen guten Geistern’ verlassen. Der, der uns hier reisend begleitet, oder vielmehr begleiten will, ist ein Engel. Und zwar jener Schutzengel, den der eine oder andere von uns vielleicht aus den eigenen Kindertagen, aus Sprichwörtern kennt, oder der uns gar ganz privat bis heute so stetig wie unsichtbar begleitet.
Dieser Engel, man ahnt es, ist nun alles andere als überirdisch wissend, oder gar vollkommen. Vielmehr scheint er sein Engel-Dasein noch zu üben, sich sozusagen ‚im Spielzimmer der Engelschaft’ zu befinden.
Wir begegnen diesem (an Paul Klees „Angelus Novus“ erinnernden) jungen Engel gleich zu Beginn, am „Ursprung“ (so hat Birgit Müller-Wieland im Übrigen auch das erste Kapitel des Gedichtbandes genannt). Und zwar in dem Gedicht „Engel im Brutkasten“.
Wir ‚sehen’ ihn hier ganz nah bei dem Kindchen liegen, an den Kabeln zupfen, deren Anschlüsse überprüfen, zum Monitor hinhorchen. Ein anderes Mal erscheint er, ich zitiere, „ein wenig zerzaust vom Jenseits“ in Form gleich beider Großmütter. Dann wieder kichert er in den Zimmerecken eines Pärchens, begleitet uns zu zwei Freundinnen auf einen ausgelassenen Balkonabend, oder gar als „Samstagsengel“ in den Hirschgarten zu Bier und Vergnügen. Seine Spuren finden sich des Morgens im Bett, oder am Urlaubsstrand, wo er die Zähne verlor, die wir als Muscheln vorfinden.
Aber er ist auch kindlich zerstreut, passt mitunter gar nicht auf. Was dazu führt, dass das Ich in dem Gedicht „Der Engel hat nicht aufgepasst“ einen schweren Fahrradunfall hat, derweil der (man ist versucht zu sagen) ‚Bengel’ gerade „vergnügt auf einem Dachziegel saß“.
Und während die gefangene Wespe durchs sich öffnende Krankenhauszimmer entfliehen kann, ist dies der Protagonistin des Gedichts nicht vergönnt. Entsprechend scheint sich der Ausspruch des Arztes „sie hat der berühmte Engel beschützt“ provokanter Weise mehr auf: “die Wespe“ zu beziehen, die sich anders als die brachliegende Frau zudem auch noch auf ihre eigene Flugkraft verlassen kann.
Zugunsten des Engels sei gesagt: er tut, was er kann. Bei all seiner eigenen Unvollkommen-heit und Zerstreutheit ist er doch stets gegenwärtig, nah. Und entfaltet als Engel-im-Werden seine ihm innewohnende Tiefendimension auch und vor allem dann, wenn er zum Beispiel als Skulptur auf dem Friedhof direkt und ausschließlich zu der Toten spricht. Oder als ebenjener Engel der Geschichte unsichtbar, doch berührbar am Straßenrand hockt; sozusagen ‚aus dem toten Winkel’ her hörbar und spürbar wird:
Wie in Lukanien
Die Toten jene die nicht
zu Ende gekommen sind
mit ihrem Leben hocken
am Straßenrand warten
bis jemand vorübergeht leicht
seufzen wir in der Sekunde
in der sie uns bespringen
ein wenig naschen
von unsrer Kraft also
deswegen hängende Schultern
gebeugte Rücken drücken
um Brust und Kragen und
manchmal Gemurmel um unsre
Wangen wie Namen Namen Namen³
Seine Mitteilungen an uns sind so konkret wie unaussprechlich zugleich.
Immer wieder in dieser seiner irdischen Engelzeit aber sprüht Alltag auf.
Heiteres, scheinbar Banales, snap shots des wirbelnden, herausfordernd bunten Lebens.
Diese ganz luftig und wie selbstverständlich daherkommende Verschränkung von Geschichte als Bewusstseinshaltung, als Eingedenken täglicher Gewalt und der kleinen wie großen Geschichten des Alltags, der Heiterkeit und Innigkeit, macht diese Gedichte für mich so besonders, so zärtlich wissend.
Im „Unreinen Liebes-Sonett“ etwa wird der Liebste vom Engel dann schon mal Huckepack getragen samt seines Rucksacks voll Bier, Wasser und Wein, und so ganz alltagspraktisch von seiner ‚Last’ befreit:
Unreines Liebes-Sonett
Indem ich deinen Namen ruf, betrete ich die Wohnung schon,
in der wir beide Schatten sind
von Engeln, die in Ecken kichern, nun aber geschwind
unhörbar tun.
Ich reiß die Türen auf – es sind nicht viel –
und schau aus jedem Fenster. Trägt dich
dein Engel Huckepack dort übern Ginster
mit unbekanntem Ziel?
Ach nein. Da unten bist du ja, den Rucksack schwer
voll Wasser, Wein und Bier.
Und ganz vergnügt gehn deine Blicke nun umher,
als wär dein Rücken frei und in der Straße hier
ein Ort, wo man ganz leicht und ungefähr
nach Hause kommen kann. – Beschwingt. Beflügelt. Von allen Lasten leer.⁴
Und so ist es schließlich das, was zählt: dieses „bisschen Frieden zwischen Gestern und Heute“, wie er uns momenthaft und dafür umso realer im schönen Schlussgedicht aufscheint, in jenem Dreierbund:
Spätsommer
Was zählt, ist dieses Licht,
das auf deinen Haaren tanzt, die Funken
in den Fichten, das letzte zarte Gefleuche,
das bißchen Frieden zwischen Gestern
und Heute, morgens die Glitzernetze
in den feuchten Wiesen, und dort,
auf der Bank, wie gemalt, ein Dreierbund:
Zwei alte Leute im Schatten,
zu ihren Füßen der leuchtende Hund ⁵
¹ Birgit Müller-Wieland: Reisen Vergehen. Gedichte. S. 71
² a.a.O. S. 69
³ a.a.O. S. 83
⁴ a.a.O. S. 39
⁵ a.a.O. S. 85
Birgit Müller-Wieland: Reisen Vergehen. Gedichte. Salzburg / Wien (Otto Müller Verlag) 2016. 80 Seiten, 18,00 Euro.